Gazette: Neue Musik in NRW - Ausgabe Februar 2017

Gewesen: Taschenoper von Thomas Beimel - Stationen III
Angekündigt: Schönes Wochenende in Düsseldorf – Berliner Philharmoniker mit Ligeti in Essen und Dortmund u.v.a.m.
CD-Besprechungen: Wandelweiser

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[Thomas Beimels Taschenoper höre dich atmen im schlaf]

Am 12.1. kam in Wuppertal posthum Thomas Beimels Taschenoper höre dich atmen im schlaf zur Uraufführung. Es ist das letzte Werk, mit dem sich Beimel vor seinem frühen, völlig überraschendem Tod am 29.6.2016 beschäftigte. Vier Szenen konnte er noch selbst vollenden. Dass der Rest aufgrund von Skizzen ausgeführt und nun in der Inszenierung von Cornelie Müller realisiert werden konnte, ist in erster Linie der Akkordeonistin Ute Völker zu verdanken, die auch die musikalische Leitung inne hatte. Dem Werk liegen elf Gedichte der Berliner Lyrikerin Daniela Seel zugrunde, die sich dem Thema der zwischenmenschlichen Begegnung widmen. Zu Beginn steht das 'wir' im Vordergrund, doch es gibt auch Momente des Zögerns, des Sich-Umkreisens und manchmal scheinen befremdliche, ambivalente Bilder auf. Die Vorstellung zum Beispiel, sich den Körper des anderen 'einfach.... wie eine Schürze' umzubinden, impliziert Nähe und Unbekümmertheit aber auch Inbesitznahme und Verdinglichung. Beimels Musik, interpretiert von Ute Völker, der Sopranistin Dorothea Brandt und der Klarinettistin Josefina Zalud, greift dieses Wechselspiel von Nähe und Distanz auf. Sie ist unaufgeregt, in sich ruhend und gleichzeitig offen und fragend, ruhige Melodielinien durchziehen den Raum, grundiert von fragilem Spieluhrenklang, dann, ganz reduziert, markieren lange, gehaltene Tönen – an wechselnden Orten intoniert – den Raum. Dazwischen wird das Geschehen immer wieder geerdet zum Beispiel durch holzdominiertes Schlagwerk oder eine dreistimmige Rezitation, die in herzhaftes Lachen mündet. Die Musikerinnen sind nicht nur Interpretinnen sondern in der Inszenierung von Cornelie Müller auch Darstellerinnen und Sprecherinnen. Mal rücken sie ganz dicht zusammen, dann schwärmen Sängerin und Klarinettistin aus, durchmessen den Raum und umkreisen das Publikum. Dieses, im Atelier Willi Barczat locker verteilt, wird dadurch unmittelbar einbezogen, auch eine behutsame Berührung ist möglich. Es entsteht eine intime Atmosphäre und doch bleibt jeder bei sich – vielleicht ist die Vereinzelung sogar spürbarer als in den genormten Sitzreihen eines Konzertsaals. Nähe und Unnahbarkeit sind keine Gegensätze mehr sondern bedingen sich gegenseitig, denn Begegnung ist nur möglich, wenn sie auf Vereinnahmung verzichtet und die Differenz aufrecht erhält.

[Stationen III – Neue Musik aus NRW]

2008 trafen sich auf Einladung des Landesmusikrates NRW erstmals Vertreter von neun Neue-Musik-Gesellschaften (Köln, Ruhrgebiet, Aachen, Düsseldorf, Detmold, Bielefeld, Dortmund, Münster sowie Bergisches Land) um sich auszutauschen und gemeinsam Projekte zu entwickeln. Zu den Ergebnissen zählen ein regelmäßig tagender Arbeitskreis, eine Fachtagung in Köln, eine Buchveröffentlichung (s. Besprechung in der Gazette März 2014) und Konzerttourneen, bei denen NRW-Musiker mit Werken vorrangig von NRW-Komponisten durch NRW reisen. Nach den Stationen I und II (2012 und 2014 s. Gazette Mai 2014) war nun die dritte Ausgabe unter dem Motto CON-FUSION an der Reihe. Das lateinische 'confusio' bedeutet sowohl 'Vereinigung,Verschmelzung' als auch 'Verwirrung, Verstörung' – aber auch 'Erröten, Beschämung, Schande'. Dass das deutsche Wort 'Konfusion' sich fast ausschließlich die negativen Konnotationen bewahrt hat, sagt möglicherweise etwas aus über unsere Störanfälligkeit und Verstörbarkeit, im konkreten Fall stehen jedoch eindeutig die positiven Aspekte im Vordergrund. CON-FUSION ist nicht nur Programm, sondern auch der Name des eigens zusammengestellten Ensembles, dem Mitglieder dreier Gruppierungen angehören: dem Neue Musik Ensemble Aachen, dem Detmolder Ensemble Horizonte und der in Dortmund beheimateten Sinfonia NRW. Insgesamt 19 Instrumentalisten probten unter der Leitung von Susanne Blumenthal, um ihre Ergebnisse vom 19. bis 23.1. in Aachen, Köln, Bielefeld, Münster und Essen vorstellen zu können. Die drei mit einem Kompositionsauftrag bedachten Komponisten hatten somit die Möglichkeit, auch größer besetzte Werke in Angriff zu nehmen. Ulrich Schultheiss (Professor an der Musikhochschule Münster und mit 60 Jahren der älteste im Bunde) machte davon allerdings keinen Gebrauch, sondern überantwortete seine Spuren einem Quintett aus Flöte, Bassklarinette,Violine, Viola und Violoncello. Dabei verwebt er harmonische, melodische und rhythmische Floskeln, lässt sie auf- und abtauchen und bewegt sich dabei auf vertrauten Wegen, steinige Pfade oder gar Neuland werden nicht anvisiert. Auch die 1988 in Südkorea geborene Mijin Oh, die zunächst in Seoul und dann bei Manfred Trojahn an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf studierte, braucht für The Oak and the Reeds nur fünf Bläser und eine Violine. Inspirieren ließ sie sich von Äsops Fabel, bei der das biegsame Schilfrohr der standhaften aber auch starren Eiche gegenübersteht. Ohne eine vordergründige Illustration abzuliefern, ist auch die Musik von Gegensätzen geprägt. Lyrische Klänge werden von dunklen, geräuschhaften Momenten durchdrungen, leichte, flüchtige Episoden geraten in einen dichten Strudel, der plötzlich inne hält – eine phantasievolle und farbige Musik. Der 1989 in Köln geborene Folkwang-Student Emanuel Wittersheim fühlt sich wie viele junge Komponisten nicht nur der Neuen Musik verbunden, sondern zählt auch Tanz, Film, Jazz, Pop, Noise und Elektronik zu seinem Einzugsgebiet. In Yellow Curtain; OxFFE600, bei dem endlich alle 19 Musiker auf der Bühne sitzen, schickt er dichte, rhythmisch strukturierte Klangwolken auf Kollisionskurs, lässt sie im Mittelteil kollabieren – von Zäsuren perforiert scheint ihnen die Luft auszugehen – und dann erneut Fahrt aufnehmen. Der kryptische Titel vereint die romantische Vorstellung eines lichtdurchfluteten Vorhangs mit einem nüchternen HTML-Farbcode, ein Gegensatz, der sein Pedant in dem Zusammentreffen von 'rationaler', algorithmusgesteuerter Machart und 'emotionalem', energiegeladenem Output findet. Diese Kombination erinnert an Iannis Xenakis, doch dass Wittersheim diesem noch nicht das Wasser reichen kann, lässt sich hautnah erleben. Neben den Uraufführungen erklingt nämlich 'außer Konkurrenz' Xenakis' Jalons, in dem dieser in sechs Abschnitten im wahrsten Sinne alle Register zieht – von hohen, vibrierenden, schillernden Klangflächen bis zu scheinbar chaotischen, sich in den Tiefen festbohrenden Geräuschmassen. Als weitere 'Zugaben' kamen zwei auf Improvisation basierende Stücke zur Aufführung. Manfred Niehaus' Einige Anweisungen für die Mittellage (1969) stammen aus einer Zeit, als die Auflösung von Hierarchien und starren Hör- und Denkmustern Hochkonjunktur hatte. Aus seinen mit verbalen Instruktionen sowie graphischen und konventionellen Notationen gespickten Karteikarten zauberten die über den ganzen Raum verteilten CON-FUSION-Musiker einen herrlichen Dschungelparcour, bei dem es quäkte und quiekte, raschelte und rieselte. Das Ensemble Horizonte ließ sich bei seiner 'Komprovisation' Farben des Feuers von Wagners Feuerzauber und Skrjabins Prometheus anregen, doch die gelegentlich kollektiv aufflackernden, zarten geräuschlastigen Klangfunken finden durchaus eigenständige Wege. Zusammen fügen sich die sechs Werke zu einem spannenden Abend zeitgenössischer Musik. Schade, dass diesmal nur fünf Städte angesteuert wurden!

[Konzerte im Februar]

Köln

In der Philharmonie spielt Martin Grubinger am 2.2. Avner Dormans Spices, Perfumes, Toxins! und am 5.2. erklingt Gervasonis Un leggero ritorno di cielo für 22 Streicher. Die Kunststation Sankt Peter lädt außer zu den monatlichen Orgelimprovisationen am 5.2. jeden Samstag um 13 Uhr zum Lunchkonzert. In der Musikhochschule stehen ein Kontaktkonzert mit der Blockflötistin Dorothee Oberlinger am 2.2. und die Werkstatt für neue Lieder am 4.2. auf dem Programm. Außerdem interpretieren Studierende der Musikhochschule am 2. und 3.2. in der Trinitatiskirche Petr Ebens Sonnengesang und am 3.2. in der Fronleichnamskirche der Ursulinen Mariengesänge aus drei Jahrhunderten u.a. von Johannes Fritsch und Hans Werner Henze. Im Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Köln präsentiert am 3.2. Elizabeth Anderson ihre Werke in Vortrag und Konzert, beim Chamber Remix am 5.2. im Kunsthaus Rhenania treffen Stefan Karl Schmid & Leonhard Huhn auf Sergej Maingardt & Andreas Kolinski, im japanischen Kulturinstitut werden am 10.2. Aspekte japanischer Gegenwartsmusik beleuchtet und im Konzert des Asasello Quartetts stehen sich am 17.2. Werke von Debussy und Lutoslawski gegenüber. In der Reihe 'Musik der Zeit' bringt das Ensemble Resonanz am 19.2. Alexander Schuberts Scanners im WDR Funkhaus zur deutschen Erstaufführung und am gleichen Tag kann man sich im Museum Kolumba auf die Premiere von Johannes Maria Stauds Oper Die Antilope einstimmen lassen. Die Premiere findet dann am 5.3. im Staatenhaus statt. Im Stadtgarten wird es am 8.2. mit Kaumwald und JSCA elektronisch und experimentell und auch im Loft ist einiges los, z.B. Stefan Schultze mit einem Solo-Programm am 10.2., freie Improvisation mit Tritett am 15.2. oder the wisseltangcamatta am 19.2.
Weitere Termine wie üblich bei kgnm und musik-in-koeln.de

Ruhrgebiet

Die Bochumer Symphoniker spielen am 24. und 25.2. Reimanns Sieben Fragmente für Orchester, am 4.2. widmet sich das Moving Noises Festival in der Christuskirche Ambient und Drone Sounds aus Europa und Amerika und am 5.2. steht ebendort das Sonic Art Lab Ensemble auf der Bühne.

Musik und Lesung begegnen sich am 5.2. im Duisburger Earport.

Eva-Maria Houben spielt am 3.2. in der Dortmunder Stadtkirche Sankt Petri eigene und fremde Werke. Im Konzerthaus ist am 9.2. Slagwerk Den Haag mit zeitgenössischer Schlagzeugmusik zu Gast und am 23. und 24.2. werden Simon Rattle und die Berliner Symphoniker mit Rihm, Ligeti und Mahler erwartet. Dabei kommt auch Ligetis Grand Macabre in einer von Peter Sellars inszenierten halbszenischen Aufführung auf die Bühne.

Die Ruhrresidenz der Berliner Symphoniker führt sie am 25. und 26.2. in die Essener Philharmonie, wo man den Grand Macabre ein weiteres Mal erleben kann. Außerdem ist dort am 12.2. der frühere Arditti-Bratscher Garth Knox zu erleben. In der Folkwang Hochschule stehen am 1. und 2.2. Konzerte der Kompositionsklassen, am 22.2. die Abschlussveranstaltung des Projekts Integrative Komposition sowie am 23.2. die Tape Session auf dem Programm und wer Lust auf Jazz hat wird bei JOE, der Jazz Offensive Essen, fündig.

Düsseldorf

Vom 3. bis 5.2. lädt die Tonhalle wieder zum schönen Wochenende. Mit dabei sind diesmal Solisten der Musikfabrik und die Sängerin Sidsel Endresen, das Pianoduo GrauSchumacher und Martin Tchiba, das Decoder Ensemble und die Sonic Robots. Zum Abschluss reformatieren die Düsseldorfer Symphoniker Beethoven. Außerdem setzt am 18.2. das Notabu-Ensemble seine Reihe 'Na hör'n Sie mal' fort und am 19.2. erklingt Schnittkes Trio für Violine, Viola und Violoncello.
Am 16.2. werden in der Filmwerkstatt die Visual Music Studies präsentiert, die unter der Leitung von Heike Sperling und Marcus Schmickler am Institut für Musik und Medien der Robert Schumann Hochschule entstanden.

Sonstwo

Die Aachener Klangbrücke befasst sich am 3.2. in der Reihe 'Hören & Sprechen über Neue Musik' mit Lieblingsstücken und das Duo Arpeggione Uruguay ist am 13.2. im Aachener Ableger der Kölner Musikhochschule zu Gast.

Die Bielefelder cooperativa neue musik hat neben dem monatlichen Jour fixe am 6.2. (diesmal mit Ulrich Maske) ein Konzert mit Mitgliedern des Cooperativa Ensembles am 5.2. zu bieten und in der Zionskirche erklingt am 26.2. neue Orgelmusik.

Am 1.2. stellt sich Prof. Dr. Andrea Valle als DAAD-Gastprofessor für multimediale Kunst bei Earquake, dem Epizentrum für experimentelle Musik der Hochschule für Musik Detmold vor.

Am 5.2. erklingt in Antoine Beugers Atelier im Hof in Haan u.a. Musik von Eva-Maria Houben.

Die Musikfabrik kombiniert am 19.2. in Kleve Schuberts Die schöne Müllerin mit Musik von Hosokawa, Aperghis und Klaus Huber.

Im Krefelder Theater am Marienplatz kann man im Februar jeweils freitags um 22 Uhr Nina Sträters Concerto di cucina lauschen.

Das Ensemble Horizonte lädt am 10.2. in der Meerbuscher Galerie Mönter zu lyrischen Begegnungen mit Musik von Faure, Ito, Kishino, Sciarrino u.a.

Im Mönchengladbacher Theater hat am 4.2. Der Konsul, ein musikalisches Drama von Gian Carlo Menotti, Premiere und begleitend zur Ausstellung What Would I Do in Orbit? von Anne-Mie Van Kerckhoven im Museum Abteiberg steht am 11.2. die Band Club Moral im nahegelegenen Step auf der Bühne.

Studierende der Schlagzeugklassen der Musikhochschule Münster interpretieren am 15.2. Werke von David Lang u.a.

Der Wuppertaler ort präsentiert neben der Kinoreihe cine:ort am 2.2. Konzerte mit Hübsch, Gratkowski, Schubert am 8.2., den digital primitives am 15.2. und dem Move String Quartett am 19.2. Weitere Konzerte mit improvisierter Musik findet man bei Jazzage – z.B. am 11.2. das Nachtfoyer und am 17.2. die Reihe 'Unerhört'.

[CD-Besprechungen Wandelweiser]

Die Edition Wandelweiser wird oft mit einem besonderen von Stille und Reduktion geprägten Stil in Verbindung gebracht, doch wie vielfältig das Spektrum ist, zeigen sechs aktuelle CDs. Einen besonders radikalen Ansatz verfolgt Manfred Werder, wobei keiner sagen kann, er wäre nicht gewarnt worden, denn die Partitur wird in vollem Umfang auf dem CD-Cover mitgeliefert. Zu stück 2003 (1) heißt es: „drei ausführende bestimmen eine gemeinsame tonhöhe. die aufführungsdauer ist unbestimmt. die ausführenden spielen ohne uhr. zwei ausführende spielen während der aufführungsdauer je einmal die tonhöhe, drei bis sieben sekunden lang. für sich. einfach.“ Genau dies, nicht mehr und nicht weniger geschieht. Innerhalb von 70 min. erklingen zwei Töne, der dritte Instrumentalist kommt gar nicht erst zum Einsatz. Das Ganze wiederholt sich im zweiten und dritten Teil mit anderer Besetzung. Drei CDs mit insgesamt 3 ½ Stunden Spielzeit, innerhalb derer 6 Töne erklingen. Wie kann man das hören? In eine stille Ecke setzen und die Töne bewusst erwarten (in Teil 1 erklingen sie in der 20. bzw. 54. Minute) oder sie einfach geschehen und an sich vorbeiziehen lassen? Live, umfangen von der konzentrierten Gegenwart der Musiker und des Publikums, lässt es sich womöglich adäquater erleben, aber letztlich muss jeder selbst einen Umgang damit finden und vielleicht passiert dabei genau das, wovor wir nach Sergio Merce uns besonders fürchten. „why are we frightened to be nothing?“ fragt er und fordert uns gleichzeitig im Titel seiner CD dazu auf: be nothing. Dabei geschieht eine ganze Menge in seinem knapp einstündigen Werk. Der argentinische Saxophonist hat die Klappen seines Instruments durch Utensilien aus dem Installateurbedarf ersetzt, was diesem nicht nur ein futuristisches Aussehen verleiht sondern auch ein mikrotonales Spektrum eröffnet. Dieses verbindet er mit elektronischen Klängen zu einem ruhigen und gleichzeitig komplexen Klangbild: diffuses Vibrieren, behutsames Pochen, sich überlagernde stehende Töne, die sich zu einem akustischen Kokon verdichten, der unmittelbar körperlich spürbar wird, tastend, suchend, mal ganz nah, dann wieder fern; dazwischen Momente der Stille, Ereignisse an der Hörschwelle. Gerade weil oberflächlich nicht viel passiert, dringt das Ohr in jede Klangritze und findet genug, um die Aufmerksamkeit zu binden, aber nichts, was sich durch eine eigene Gestalt oder Geschichte aufdringlich in den Vordergrund schiebt.
Auch André O. Möller experimentiert in seiner James Tenney gewidmeten CD (in memory of james tenney) mit einem ungewöhnlichen Instrumentarium. Angeregt durch und gemeinsam mit Hans Eberhard Maldfeld erkundet er das mittelalterliche Trumscheit und die Tromba Marina, ein Monochord, das vom 15. bis 18. Jahrhundert populär war und im Zuge des Interesses an historischen Instrumenten wiederentdeckt wurde. Das Tonmaterial entspricht der Naturtonreihe, wobei man sich bis zum 20sten Teilton und darüber hinaus vortasten kann. Eine Besonderheit ist der Steg, der beim Spiel gegen den Resonanzkörper schlägt und dabei einen schnarrenden Ton erzeugt, der an den Klang einer Trompete oder eines anderen Blechblasinstruments erinnert. Dieses intensive scheppernde Geräusch dominiert besonders das erste halbstündige Stück, das sich auf den Umfang einer reinen Sekunde (one just second) beschränkt. Zunächst fühlt man sich wie in einem Sägewerk, geradezu physisch attackiert, aber dann ist es wie Schwimmen im Meer; wenn man erstmal den kiesigen Strand hinter sich gelassen hat und weit genug draußen ist, kann man sich den Wogen überlassen und spürt unter der harschen, aggressiven Oberfläche subtile Unterströmungen, die sich wie Glockentöne ausbreiten und ein erstaunliches Eigenleben entfalten. Im zweiten Teil (expanding the universe) weitet sich der Tonraum und das Areal wird weiträumig erkundet. Es setzt eine Beruhigung ein, doch seichte Gewässer sind nicht zu befürchten, denn das Mit- und Nebeneinander verschiedener Klangschichten erzeugt eine erstaunliche Tiefe und Dichte, ein brodelndes, in ständiger Wandlung begriffenes Universum. Noch dunkler, verhaltener und fragiler erscheinen das dritte und vierte Stücke, bei denen das Trumscheit zum Einsatz kommt. Man taucht ein in eine seltsame, faszinierende Unterwasserwelt, in die sich immer wieder scharfe, kantige Laute verirren.
Wandelweiser ist nicht nur ein CD-Label sondern ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten, die in regelmäßigem, lebendigem Austausch stehen. Seit 2013 fühlt sich auch Cem Güney ihnen verbunden. Nachdem er sich vorher vorzugsweise mit elektronischer Musik befasste, bewirkte ein sommerlicher Aufenthalt im von Antoine Beuger organisierten Düsseldorfer Klangraum eine Hinwendung zur komponierten Musik für klassisches Instrumentarium. Als Ergebnis liegen nun die five compositions für sechsköpfiges Ensemble vor, die sich vor allem durch Konsequenz und Einfachheit auszeichnen. In two and three sind es ruhige, stehende Klänge, in mulberry grove kurze Floskeln, die sich wiederholen und sanft ausklingen, leicht variiert, doch ohne Entwicklung, in sich ruhend. Mit äußerstes Vorsicht nähert sich Güney den Klängen, in hive mind lässt er sie an- und abschwellen, verharren oder vibrieren, reduziert sie zu geräuschhaftem Rauschen am Rande der Hörbarkeit. Die Töne scheinen zu entschwinden, sind immer auf der Schwelle, und gewinnen gerade dadurch eine besondere Intensität – kostbar wie alles, was sich jederzeit entziehen kann. Im letzten Stück (inner voice, for düsseldorf) wird die fragile Klanglandschaft durch Fragmente aus Gedichten seiner Landsmännin Gonca Özmen ergänzt, doch ihre Ungreifbarkeit wird bewahrt.
Auch Beat Kellers String Trios, sieben Miniaturen zwischen einer und knapp sechs Minuten Dauer, kommen ganz schlicht daher, aber unter der Oberfläche brodelt es, die Töne beharren auf ihrer Präsenz, als behutsam insistierende Akkorde, an- und abschwellende Vibrati oder stachliges, huschendes Pizzicato. Dazwischen lauern merkwürdige Überraschungen z.B. wenn uns die No. 3 wie eine verstaubte Weihnachtskugel ein verschrobenes 'O du fröhliche' präsentiert. Auf der CD mit dem Haiku String Trio, dessen Name bereits für Kürze und Konzentration bürgt, finden sich zudem Werke von Tom Johnson und Joseph Kudirka.
Dass die Wandelweiser nicht nur um sich selbst kreisen, zeigen die immer wieder erstaunlichen Entdeckungen, wie zum Beispiel die des Georgiers Mikheil Shugliashvili, der mir bis dato völlig unbekannt war. 1941 in Tbilisi geboren studierte er als Jugendlicher in Moskau Cello, bevor er in seine Heimatstadt zurückkehrte, um ein Kompositionsstudium aufzunehmen. Doch, wie Thomas Meyer im Booklet berichtet, fand dieses Ansinnen ein jähes Ende, da seine Musik als zu kakophonisch galt. In den 80er Jahren gründete er eine Privatschule, in den 90ern befasste er sich mit Computermusik, 1996 starb er. Seine Grand Chromatic Fantasy (Symphony) for three pianos entstand in den 70er Jahren, kam jedoch erst 2013 zur Uraufführung und ist ein wahrhaft erstaunliches Werk. Auf- und absteigende chromatische Läufe überlagern und verdichten sich, kurze Verschnaufpausen durchlöchern das Klangbild, Pausen, in denen die meist pedalisierten Klänge lange nachschwingen. Es ist, als wolle die Musik Luft schöpfen, um dann um so energischer vorwärts zu drängen, insistierend, angriffslustig, unerbittlich, die drei Klaviere (furios gespielt von seinen Landsleuten Tamriko Kordzaia, Tamara Chitadze und Nutsa Kasradze) verschmelzen zu einem Megainstrument, unermüdlich unterwegs und gleichzeitig auf der Stelle tretend, bis im letzten Viertel wie aus dem Nichts Bachs schon im Titel anvisierte Chromatische Fantasie aufscheint, wie ein Sturzbach, überdreht und überspannt, aber ebenfalls von Leerstellen zersetzt und in Auflösung begriffen. Den ersehnten Ruhepol kann auch sie nicht bieten, nach fast einer Stunde, in der niemals Langeweile aufkommt, zwischen Überdruck und drohender Erschöpfung läuft die Musik aus, verliert sich in einem dichten, lange nachhallenden Klangkonglomerat. Auch das ist Wandelweiser – eigenwillig und unbeirrbar.

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