Eröffnungsrede Lars Henrik Gass 68. Kurzfilmtage, 4. Mai 2022

05. Mai 2022

Dr. Lars Henrik Gass

Festivalleiter Internationale Kurzfilmtage Oberhausen:

Rede anlässlich der Eröffnung der 68. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

4. Mai 2022, Lichtburg Filmpalast, Oberhausen

Es gilt das gesprochene Wort.

Festivalleiter Lars Henrik Gass
Foto: Daniel Gasenzer
 

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

sehr geehrte Frau Hankeln,

sehr geehrte Landtagsabgeordnete, Stadtverordnete, Beigeordnete und Bürgermeister,

sehr geehrte Förderer und Sponsoren,

liebe Gäste und Freunde, ich begrüße Sie recht herzlich im Namen der Kurzfilmtage.

 

Bis zum 9. Mai werden wir rund 600 Filme aus über 70 Ländern gezeigt haben, 44 davon online. Wir erwarten mehr als 800 akkreditierte Fachbesucher aus 72 Ländern. Das ist nach allem ermutigend.

 

Daher steht heute der Dank am Anfang, nicht am Ende, denn ohne die verlässliche Unterstützung, ohne die großzügigen Garantien von Stadt, Land und Bund hätten wir seit Beginn der Pandemie unsere Arbeit gar nicht fortsetzen können. Wir hätten zwei Festivals nicht durchführen und vor allem hätten wir den Strukturwandel eines Filmfestivals nicht einleiten können, wie wir das gerade versuchen. Nachdem Oberhausen das erste Festival in Deutschland war, das 2020 seine Programme vollständig online präsentierte, ist es nun auch das erste Festival, das in diesem Jahr eine Abfolge von unabhängigen analogen und digitalen Angeboten zum Prinzip erhob. Das wirft den Glaubenssatz über den Haufen, wonach ein Festival auf Ort und Zeit beschränkt sein müsse.

 

Mithilfe Ihrer Förderung konnten wir im Ansatz unsere Ideen zur Zukunft eines Filmfestivals umsetzen: dass ein Festival zugleich an einem Ort Kinokultur praktiziert und weit darüber hinaus in aller Welt Filme zugänglich macht. Das ist ein weiterer Schritt zur Demokratisierung von Filmkultur. Den „Weg zum Nachbarn“, den die Gründer dieses Festivals uns in Auftrag gaben, können wir heute auch durchs Internet gehen. Zugleich ist es der Versuch, für Filmkultur eine neue gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln zu einer Zeit, in der das Kino gewerblich gesehen an Bedeutung verliert.

 

Wir wissen nicht, ob es dafür eine dauerhafte Nachfrage gibt. Das wissen aber selbst diejenigen nicht, die damit Geld verdienen müssen. Kommerziell ausgerichtete Streamingangebote von Bertelsmann oder Spotify sind immer noch defizitär; sie sind eine Wette auf Marktanteile der Zukunft. Bertelsmann hat rund 250 Millionen Euro Anlaufverluste aufgetürmt; Spotify wies für 2021 34 Millionen Euro Verlust aus. Wir dagegen arbeiten mit geringsten Budgets. Doch es geht hier nicht ums Geld, sondern um die Haltung. Wir denken, dass die Zukunft der Festivals in hybriden Strukturen liegt. Erst langsam begreifen auch die Messen, dass auch sie digitale Angebote entwickeln könnten; die Art Düsseldorf etwa bot gerade digitale Rundgänge für Sammler. Im Grunde führen wir in diesem Jahr vier Festivals hintereinander durch: hier vor Ort wie gewohnt, darüber hinaus digital den Festival Channel, in dem nun zwei Monate lang täglich neue Beiträge zu sehen waren, eine Online-Ausgabe des Festivals mit eigenständigen Wettbewerben, die gestern zu Ende ging, sowie „This is Short“, ein Online-Angebot des europäischen Festivalnetzwerks, dessen Gründungsmitglied wir sind. Auch wissen wir nicht, ob dieses Angebot ein dauerhaftes Modell für Filmfestivals sein kann, doch es entsteht eine ganz neue Perspektive, wie man Filme, die nicht mehr fürs Kino gemacht sind, sinnvoll präsentieren kann, ja, wie man auch all jene, die nicht mehr nach Oberhausen reisen können oder wollen, weiter erreichen kann, denn wir konnten schon vor der Pandemie feststellen, dass die Klimakrise, stark veränderte Arbeitsformen und die digitale Entwicklung ganz erheblichen Einfluss auf das Reise- und Freizeitverhalten des Publikums haben.

 

Aus all diesen Gründen bleibt Verlässlichkeit in der Förderung so wichtig. Verlässlichkeit drückt sich nicht in Unveränderlichkeit aus, sondern im Bewusstsein, was Qualität ist und Qualität hervorbringt. So hat der Text „Kulturstress“ von Nobert Sievers 2014 in den kulturpolitischen Mitteilungen unverändert Relevanz. Zitat: „Stress ist (…) ein Symptom eines zum Teil überhitzten, ganz sicher unterfinanzierten und deregulierten Kulturbetriebs, der sich durch immer mehr Programme und Projekte Handlungsspielräume offen hält und die Akteure der Kulturgesellschaft einem permanenten, zeitlich eng getakteten Wettbewerb aussetzt, um möglichst viele kulturelle Kräfte zu mobilisieren.“ Zitat Ende. Kulturförderung erzeugt einen Verteilungswettbewerb, weil sie langfristige Verantwortung in der Regel zurückweist und zugleich kurzfristige Erwartungen bei einer immer weiter anwachsenden Gruppe von Antragstellern hervorruft, die sich um die Projektförderungen anstellen müssen. Einerseits ist es richtig und nötig, neue Initiativen zu fördern, sich andererseits aber für funktionierende Strukturen und Kostensteigerungen oder die Anpassung von Honoraren und Gehältern nicht mehr in der Verantwortung zu sehen, geschweige denn für einen Begriff von Qualität, verursacht ein systemisches Problem. Das Goethe-Institut etwa hat die Festivalförderung durch das Auswärtige Amt, mit deren Hilfe Reisen von Personen aus sogenannten devisenschwachen Ländern nach Deutschland ermöglicht wurden, darunter auch von Kindern und Begleitpersonen, in eine Projektlogik überführt. Es war nicht originell, Kindern direkt und regelmäßig die Reise nach Deutschland zu ermöglichen. Es war schlicht und ergreifend sinnvoll; das aber ist nicht mehr der Maßstab. In Goethes Namen müssen Festivals ab sofort jährlich neue originelle Ideen anbringen, um eine Förderung zu begründen. Jetzt lautet die Frage nicht mehr: Wer ist bedürftig?, sondern: Wer verkauft sich am besten?

 

Sprechen wir also über Qualität und Zugänge. Ich wünsche mir einen Strukturwandel in der Film- und Kulturförderung, aber vor allem in den kulturpolitischen Leitbildern, in der Stadtplanung und vielen anderen Bereichen, zumal es nach der Pandemie keine Rückkehr zu gewohnten Standards geben wird. Darin sollte auch das Verhältnis zwischen Festivals, Kino und Internet, zwischen Film und den anderen Künsten, zwischen Arbeit, Freizeit, Lernen und Wohnen, zwischen Kulturinstitutionen und Stadt überdacht werden. Das deutsche Filmförderungsgesetz etwa kann sich über die Auswertung von Filmen an der Kinokasse nicht mehr refinanzieren. Die Filmförderung des Bundes wird also wahrscheinlich nur noch steuerfinanziert weitergeführt werden können. Wenn der Bund aber die Hauptlast der Film und Kinoförderung tragen soll, ist spätestens die Frage erlaubt, wie dieses Engagement im Sinne des Gemeinwohls ausgestaltet werden kann. Die Art und Weise, wie wir Filme schauen, hat sich in den letzten Jahren ganz erheblich verändert. Daher ist antizyklisches, das heißt kulturpolitisches Handeln nötig, um möglichst viele Zugänge für möglichst viele offen zu halten. Das ist wohl der tiefere Sinn der Idee einer „Kultur für alle“, wie sie Hilmar Hoffmann einst forderte. Im Kern ist das eine soziale, keine kulturelle Frage: Wer Kino nicht nur als Geschäftsmodell, sondern als kulturelle Praxis betrachtet, wer Kino nicht nur als Unterhaltung in den eigenen vier Wänden will, sondern als Form öffentlicher Teilhabe, sollte neu über Kulturbauten und Stadtplanung nachdenken, denn Auftrag von Politik ist nicht die Garantie gesicherter Geschäfte mit Film und Kino, sondern die Sicherung des Zugangs zur Film- und Kinokultur.

 

Zwar sprechen alle von Filmbildung, aber keiner davon, zum Beispiel in Schulen oder Seniorenheimen Kinoräume einzurichten. Die niederländische Architektin Ellen van Loon zeigt, wie es anders geht, und integrierte in einer Schule in Brighton neben einer Rooftop Bar auch ein Kino. Unterdessen entstehen weitere neuartige Konzepte, wie man Kulturräume mit anderen Funktionseinheiten sinnvoll verbinden kann, etwa in Paris und Zürich, wo Kinoräume in den Hotels Paradiso und Signau-Haus entstanden und die Gäste sich Filmgeschichte nach Belieben anschauen können. In Deutschland ist mir kein einziges ähnliches Projekt bekannt. Es ist mir daher unbegreiflich, warum bei öffentlichen Ausschreibungen der Zusammenhang zwischen Arbeiten, Lernen, Wohnen und Kultur nicht stärker in den Blick rückt. Dafür eignet sich das Kino hervorragend: Das historisch immer vom Markt geprägte Kino könnte man nun als Kulturbau für die Gesellschaft neu erfinden; der Nullpunkt des Kinos könnte also Modell für andere Bereiche der Kultur sein und auch eine Antwort auf die Frage: Wie wollen wir leben?

 

Ohne Strukturwandel wird es ein Nachfrageproblem geben, für uns und andere in der Kultur. Der Sänger Christian Gerhaher hat in einem Zeitungsgespräch ernüchtert feststellt, dass das Publikum nicht mehr in die Konzertsäle zurückkehrt und dass dies bereits erhebliche Auswirkungen auch für den künstlerischen Nachwuchs hat. Aus diesen Gründen ist der Strukturwandel von Kulturinstitutionen und -angeboten eine gesamtstaatliche Aufgabe, die der Bund mit Kommunen und Ländern gemeinsam lösen müsste. Das Gegenteil aber ist der Fall: In einem bemerkenswerten Schreiben hat die amtierende Kulturstaatsministerin den Unterzeichnern einer Petition in Sachen Filmvorführung, die als qualifizierter Beruf zu verschwinden droht, mitgeteilt, dieses Anliegen, der Fortbestand von Kino, falle in die Zuständigkeit der Länder, sei also nicht von gesamtstaatlichem Interesse.

 

Gleichzeitig nimmt mit der Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine der systemische Druck der „Zeitenwende“ zu. Derzeit, ich habe es grob berechnet, entstehen durch den Militärhaushalt des Bundes in rund acht Minuten Kosten in Höhe des Etats der Kurzfilmtage. Wem die Stunde geschlagen hat, teilt uns daher nicht das Feuilleton mit, sondern der Artikel auf Seite eins der Zeitung, etwa am 16. März in Sachen Bundeshaushalt unter dem martialischen Titel – „Die Stunde der Wahrheit“ – drunter geht’s auch bei der FAZ nicht mehr: „Der Hang zum Luxus äußert sich seit Jahren in einem kontinuierlichen Wachstum aller Einzeletats (…); die Kultur- und Medienbeauftragte der Bundesregierung ist schon fast halb so stark wie das gesamte (und stets wachsende) Kanzleramt, in dem sie angesiedelt ist. Solche Auswüchse sind aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht die Schlagseite zugunsten von Sozialausgaben (…).“ Zitat Ende. Kultur gilt also ebenso wie Sozialausgaben im Vergleich zum Militärhaushalt, der als „Kernaufgabe des Staates“ bezeichnet wird, als „Luxus“ und „Auswuchs“.

 

Dass neue Maßstäbe der „Zeitenwende“ bedrückend auf uns zukommen, kann man überdies der Begründung einer Zeitungsredaktion entnehmen, warum sie nicht mehr über uns berichte: Die Klickzahlen im Internet hätten gezeigt, dass die Berichte nicht hinreichend nachgefragt seien. In einer Ausgabe des Infoportals Kultur & Kontroverse liefert Johannes Franzen einige grundsätzliche Betrachtungen zur Lage des Kulturjournalismus: Einerseits ist die launige digitale Öffentlichkeit ein guter Gradmesser dafür, was Menschen interessiert. Andererseits wird man als Medium so auch schleichend zu einem Populismus erzogen, der dazu führen kann, dass man Themen, die nicht unmittelbar eine Menge an Social Shares produzieren, vernachlässigt. Wichtig ist also jetzt, was nachgefragt wird. Nachfrage ist die Droge von allen, die ankommen wollen, und Konsum die einfachste Lösung. Doch wer mit Kultur ankommen will, hat schon verloren, denn er müsste sachlich gesehen qualitative durch quantitative Maßstäbe ersetzen. Wichtig aber wird nicht weniger wichtig, wenn keiner hinschaut. Der Schriftsteller Robert Walser schrieb über den Geiger Paganini: Er spielte so schön, weil er wie für niemanden spielte. Und auch im Kino kann es schön sein, wenn man alleine ist – zumal, um sich vor dem Zeitgeist zu retten.

 

Im Zuge der „Zeitenwende“ wird uns unaufhörlich mitgeteilt, wir stünden auf „der richtigen Seite der Geschichte“. Allseits werden uns patriotische Pflichten auferlegt, Künstler Gesinnungsprüfungen ausgesetzt. Schon bezichtigt man die Annäherung nach dem Kalten Krieg, zu der dieses Festival wohl einen der wichtigsten kulturellen Beiträge in der deutschen Nachkriegsgeschichte geleistet hat, der Beihilfe zum Angriffskrieg; das alles im Gleichschritt gefolgt von einem Überbietungswettbewerb von Erklärungen, ohrenbetäubend, doch wirkungslos mit Blick auf die Opfer die eine wie die andere. Mit einer wohlfeilen Erklärung hätten sicherlich auch die Kurzfilmtage klickwürdige Aufmerksamkeit erregen können. Nach internen Diskussionen haben wir uns gegen Verlautbarungen und Boykotte entschlossen, denn gesellschaftlich wirkt Kultur nur, wenn sie sich nicht anmaßt, an- und einzugreifen, sondern ihre Arbeit tut: geduldig und kompromisslos. Hilflosigkeit ist kein Grund, Kunst zur Gesinnung zu erpressen. Meine geschätzten Kollegen der Diagonale in Graz, dem Festival des österreichischen Films, haben das zuletzt ohne branchenüblichen Jargon formuliert: „Filmfestivals nehmen russische Filme aus ihren Programmen. Künstler werden aus Filmhochschulen entlassen und ausgeschlossen. Der unsägliche Zeitgeist trifft den Krieg! Fakt ist, dass auch mit Mitteln der Kulturindustrie Krieg geführt wird. Verwechseln wir dies jedoch nicht mit einer abgekürzten Beichtkultur. Setzen wir Kunst und Kultur nicht mit Politik gleich (…).“ Zitat Ende.

 

Kultur, wie wir sie verstehen, wie sie in diesem Haus Tradition hat, will nicht auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Das Geschenk des Kinos an die Gesellschaft ist, gezwungen zu sein wahrzunehmen, was wir nicht wissen. Dass uns das Kino zwingt hinzuschauen, ist sein einzigartiger Beitrag zur Gesellschaft. Keine andere Kunst kann das. Die „Sowjetische Elegie“ des russischen Filmemachers Alexander Sokurov, für mich einer der bedeutendsten Filme der Filmgeschichte, übrigens im Filmarchiv der Kurzfilmtage, wurde 2019 hier zur Eröffnung gezeigt, beim letzten Festival vor der Pandemie. Dieser Film lässt uns besser als alle Nachrichten begreifen, was sich in den letzten Wochen und Monaten zutrug, weil er den Verfall der Sowjetunion wie in einem großen Tableau zeigt.

 

Kurzfilmtage, das ist in diesem Jahr 600-mal eine andere Sicht auf die Welt, die nicht nur eine Geschichte kennt.

 

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, allen Zuschussgebern und Sponsoren für die Unterstützung und vor allem dem Team der Kurzfilmtage, das dieses Festival jederzeit seit März 2020 souverän durch einer der schwierigsten Phasen seit Gründung geführt hat.

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