Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe August 2022

24. Juli 2022

Gewesen: Klangraum Wandelweiser in Düsseldorf

Angekündigt: EarFest in Duisburg – Tagesfestival für aktuelle Musik in Essen-Borbeck – Auftakt Ruhrtriennale u.v.a.m.

 

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[Klangraum Wandelweiser in Düsseldorf]

 

Während viele urlaubssehnsüchtig der Stadt den Rücken zuwenden, zieht es ein kleines Häuflein jeden Sommer nach Düsseldorf, um mit Antoine Beuger zwei Wochen lang auf dem ehemaligen Jagenberggelände die Räume der Jazz-Schmiede und des Neuen Kunstraums zu bespielen. Man sieht immer wieder dieselben Gesichter und immer wieder ein paar neue, auch weite Anfahrten (aus Kanada, Argentinien und Australien) werden in Kauf genommen und so genau weiß keiner, was das hier ist: Workshop, Exerzitium, Performance, Konzert, Residency, Sommercamp, Familientreffen? Womöglich bin ich unter den Anwesenden die Einzige, die nicht irgendwie mitwirkt, ein Instrument, einen Text oder ein Konzept im Gepäck hat, sondern einfach nur da ist. Mal nicht entscheiden, verantworten, erklären, verstehen müssen, das darf auch sein und so sind die beiden sommerlichen Wandelweiserwochen (hier und hier) für mich Urlaub und Therapie zugleich – zumal das Thema Tod und Vergänglichkeit, das schon im letzten Jahr sehr präsent war (s. Gazette September 2021), mich weiterhin nicht loslässt.

Unwillkürlich denke ich an verrinnende Zeit, wenn ich vor Bernd Blefferts drei großen Trichtern sitze, aus denen ein kontinuierlicher feiner Sandstrom rieselt. Hörbar wird dieser jedoch erst, wenn wie kleine Trommeln bespannte Röhren in den Strahl gehalten werden und das stille Rieseln und Rinnen in feines Rauschen verwandeln. Durch die unterschiedliche Größe der Objekte entstehen verschiedene Tonhöhen, die sich zu einem komplexen Klang vereinen. Es ist wie im Leben, erst durch Kontakt, ob Begegnung oder Hindernis oder beides zugleich, entsteht ein Resonieren, entsteht eine Form, scheint das Verrinnen einen Moment lang innezuhalten.

Das Resonieren, das Miteinander- und Aufeinanderhören spielt eine große Rolle. Meistens wird den Ausführenden viel Freiraum gelassen. So in Katie Porters mazes.2, denen labyrinthartige graphische Vorlagen zugrunde liegen. In einigen tauchen einzelne Töne oder kleine Motive auf, die sich als wiederkehrende Momente wie Gedächtnisspuren bemerkbar machen – ein ruhiges Mäandern, in dem Klänge und Geräusche, diskrete und gehaltene Töne auf selbstverständliche Weise zusammenkommen. In diesem scheinbar in sich geschlossenen Kosmos gibt es stets kleine Ritzen, durch die die Welt hereinrieselt: Auch eine zerquetschte Plastikflasche ist als Mitspielerin willkommen. Marie-Cécile Reber lässt sich in ihren Soundarbeiten von Naturgeräuschen inspirieren, so dass man sich plötzlich einem imaginären Schwarm von Insekten ausgesetzt fühlt, so unmittelbar, dass man sie zu spüren meint, und so irreal, dass man sich ihrer nicht erwehren muss, sondern sich ihrem Summen und Sirren ohne Vorbehalte ausliefern kann. Bei Helga Fanderl summt nur der Filmprojektor. Mit einer Handkamera entstehen kurze Super-8-Filme ohne Ton, die sie grundsätzlich nicht nachbearbeitet und zu Programmfolgen verbindet. Es sind Kleinodien des Alltags, im Wasser tollende Hunde, spielende Kinder, rinnendes Wasser, glitzerndes Laub, kurze Szenen, die nichts erzählen wollen und keine komplizierten Geschichten transportieren, die vom puren Sehen ablenken könnten. Die Geräusche entstehen im Kopf. Durch die anachronistische Technik schwingt ein nostalgischer, melancholischer Grundton mit, der auch James Creeds lomond durchzieht. Er hat ein altes schottisches Volkslied gewissermaßen in die Vertikale gekippt. Die Melodie wird zu einem kleinen Paket zusammengefaltet, einem pocket-sized, neat parcel, das von den Musikern behutsam wieder ausgepackt wird. Dabei entsteht ein sanfter Strom ineinandergleitender Töne, die sich wie ein Tuch über den Raum legen, ein harmonisches Gefüge, vertraut und doch ungreifbar – wie ein Traum oder eine Erinnerungsspur, die ganz nah und präsent ist und doch entgleitet, wenn man ihrer habhaft werden will. „It's the song on pause and play at the same time.“

Das Ganze kann allen Realitätsritzen zum Trotz den Eindruck eines elitären Refugiums erwecken, aber Lörinc Mutang sieht gerade hierin das Politische, weshalb er seine ungewöhnliche Versuchsanordnung politika nennt. Alle Anwesenden erhalten einen ungarischen Text ausgehändigt, den sie gemeinsam rezitieren sollen – teils nur in Bruchstücken teils als mehrstimmigen Lektürestrom. Da es sich ausdrücklich nicht um Muttersprachler handeln soll, weiß keiner, was er hier von sich gibt. Es könnte sich um hohe Poesie oder niedriges populistisches Getöse handeln, wie man es zurzeit leider nur zu sehr mit Ungarn verbindet. Es geht darum zu vertrauen, sich auf unbekanntes Gelände zu wagen, innezuhalten und zuzuhören; gerade nicht – wie in der Politikarena üblich – einander zu übertönen, sondern sich zurückzunehmen und behutsame Akzente zu setzen, die gerade dadurch ihre Wirkung entfalten. Wer leise ist, wird hellhörig für sich und andere, auch für das Ungewohnte und Fremde. Der niederländische Schauspieler Joep Dorren hat Freunde eingeladen, Texte auszuwählen, vorzugsweise aber nicht nur von Rumi, dem persischen Sufi-Mystiker, und gemeinsam mit je eigenen Mitteln zu interpretieren. Christoph Nicolaus versetzt mit seiner Steinharfe den Raum in vibrierendes Schwingen, die Filmkünstlerin Els van Riel lässt die Worte über Vorhänge und Wände gleiten, Rasha Ragab gibt ihnen ihre Stimme; jeden Tag entsteht etwas Neues, irgendwann sind alle mit im Boot. Auch im Quartett mit dem Bassklarinettisten Lucio Capece und dem Kontrabassisten Werner Dafeldecker umkreisen Ragab und Nicolaus Rumi-Texte: mercy is called down by mercy to the last. Wenn sich die satten, warmen Klänge der Bassklarinette und des Kontrabasses in das dunkle Vibrieren der Steinharfe einschreiben, wird dies zu einem mit allen Sinnen spürbaren Ereignis. Der Raum ist nicht länger ein Außen, eine leere Form, die gefüllt wird, auch keine Form der Anschauung, sondern eine Form der Empfindung, der Körperwahrnehmung.

 

[Termine im August]

 

Köln

 

Die Musikfabrik präsentiert am 13.8. eine Uraufführung von Gordon Kampe, am 19.8. Erstaufführungen estnischer Komponistinnen und am 31.8. crossmediale Werke von Brigitta Muntendorf und Michael Beil (hier und hier). In der Alten Feuerwache erwarten uns Concepts of Flow mit der Y-Band am 14.8., das Ensemble Garage am 19.8. und das Ensemble Consord am 21.8. Die reiheM lädt Adi Gelbart am 11.8. ins Gewölbe und lässt Marisa Anderson & William Tyler am 31.8. die Poller Wiesen bespielen. In der Kunststation Sankt Peter sind Ryoko Aoki mit japanischem Noh-Gesang am 12.8. und das Ensemble Horizonte am 24.8. zu Gast. Im Kunstraum Dorissa Lem interpretiert Michael Denhoff am 21.8. neben eigenen Werken Musik von Bernd Alois Zimmermann und György Kurtág, als Nachklang zum Achtbrückenfestival erklingt am 27.8. Stockhausens Sternklang im Brühler Schlossgarten und in der Philharmonie steht am 31.8. Kaija Saariahos Orion auf dem Programm. Unter dem Titel Kryptologgia findet am 6. und 13.8. ein Musikprojekt statt, das den Klang der Krypta von Neu Sankt Alban erkundet.

Im Loft geht es am 12.8. weiter – vor allem im Rahmen der Cologne Jazzweek. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln und ON – Neue Musik Köln sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

What comes mex? fragt eine Ausstellung, die sich mit 30 Jahren Krach im Künstlerhaus Dortmund befasst und am 26.8. mit einer Konzert-Performance eröffnet. Das Depot präsentiert vom 20. bis 27.8. das Audio Depot mit experimentellen Collagen, dokumentarischen Hörstücken, live vertonten Lesungen, Sound- und Klangexperimenten und explorativen Rundgänge. Unter anderem hält Achim Zepezauer einen Vortrag zum Thema „Die Stimme in der experimentellen Musik“. Gleichzeitig veranstaltet Parzelle, der Verein für interdisziplinäre Kulturprojekte, vom 25. bis 28.8. das Visual Sound Outdoor Festival.

 

Der Duisburger EarPort lädt vom 26. bis 28.8. zum EarFest Sommer 2022 ein und parallel dazu findet das Platzhirschfestival statt – u.a. mit Tomeka Reid, aktuell improviser in residence des Moers Festivals, und einem Quintett um Jan Klare.

 

Die Gesellschaft für Neue Musik Ruhr kündigt für den 6.8. ein Tagesfestival für aktuelle Musik in Essen-Borbeck an und in der Essener Philharmonie erklingt am 30.8. Ligetis Lontano für großes Orchester.

 

Am 11.8. startet die Ruhrtriennale in die nächste Runde. Gleich zum Auftakt hat Ich geh unter lauter Schatten mit Musik von Grisey, Vivier, Xenakis und Scelsi Premiere und am 31.8. folgt die szenische Uraufführung des Instrumentalzyklus Haus von Sarah Nemtsov. Außerdem stehen ein Konzert mit dem Klangforum Wien unter dem Titel Organicum am 14.8., die Avandgarde-Band black midi am 17.8. und Yuen Shan, Michael Rantas Komposition für Schlagwerk und achtkanaliges Tonband, am 28.8. auf dem Programm.

 

Düsseldorf

 

Die Düsseldorfer Symphoniker eröffnen die neue Spielzeit am 26.8. in der Tonhalle mit Lutoslawskis Tanzpräludien für Klarinette und Orchester (Folgeaufführungen am 28. und 29.8.).

 

Sonstwo

 

Die Soundtrips NRW schicken vom 25.8. bis 4.9. Paulina Owczarek und Federico Reuben durch die Lande. In Wuppertal, Gelsenkirchen, Dortmund, Duisburg, Essen, Bonn, Düsseldorf, Köln, Bielefeld, Bochum und Münster treffen sie auf wechselnde Gäste.

 

Das Cooperativa Ensemble der Bielefelder Cooperativa Neue Musik feiert am 23.08. den Abschluss einer dreijährigen Förderung durch das Land NRW.

 

Dominik Susteck interpretiert am 14.8. in der Mönchengladbacher Citykirche sein Orgelwerk Zeichen.

 

Am 20.8. ist das Ensemble Consord in der Musikhochschule Münster zu Gast.

 

Das Studio für Neue Musik der Universität Siegen kündigt für den 4.8. Musik und Performance zur Eröffnung einer Ausstellung mit Werken von Renate Hahn in der Städtischen Galerie Haus Seel an.

 

In Solingen erwarten uns am 5.8. Transformationsprozesse im musikalischen, bildnerischen und performativen Raum.

 

Im Wuppertaler ort steht neben den Soundtrips NRW am 25.8. in der Reihe 'all female' am 16.8. die Pianistin Marlies Debacker auf dem Programm.

 

Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

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Konzept, Redaktion & Umsetzung: Petra Hedler

neuemusik@kulturserver-nrw.de

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