Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Dezember 2019

Gewesen: Now!-Festival in Essen

Angekündigt: Klangforum Wien in der Kölner Philharmonie – Miro Dobrowolny mit rundem Geburtstag in MG – reiheM im Kölnischen Kunstverein u.v.a.m.

 

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[NOW!-Festival in Essen]

 

Das Essener NOW!-Festival, das erneut unter Federführung der Philharmonie mit mehreren Kooperationspartnern – Folkwang Universität, Stiftung Zollverein, Pact Zollverein, Landesmusikrat NRW – an zwei Wochenenden im Herbst Neue Musik in die Stadt brachte, hatte sich in diesem Jahr mit dem Motto Transit einen sehr dehnbaren Oberbegriff erwählt, unter den sich letztlich fast alles subsumieren lässt. Als ein Schwerpunkt kristallisierte sich die Elektronik heraus – als Übergang von instrumentaler zu elektronischer Musik, aber auch von analogen zu digitalen Herangehensweisen. Die Folkwang Hochschule kann hier auf eine lange Tradition zurückblicken, die bis in die 70er Jahre zurückreicht, als Dirk Reith mit der Berliner Firma Hofschneider den legendären SYNLAB entwickelte, der heute als größter noch funktionstüchtiger analoger Synthesizer gilt. Im Vergleich zu heutigen immer kleiner werdenden digitalen Gerätschaften handelt es sich dabei um ein wahres Monstrum und so kam es einer kleinen Sensation gleich, dass der SYNLAB vorübergehend in den Pact Zollverein auswandern durfte, um dort sein Können unter Beweis zu stellen. Die fünf schrankhohen, flankernden Apparate, die von eifrig hin- und hereilenden und herumstöpselnden Personen zum Leben erweckt werden, strahlen im Vergleich zu einer Laptop-Performance eine hohe Präsenz aus und ihrem quäkenden, schnatternden, rasselnden, pochenden und knarzenden Klangkosmos haftet bei aller Künstlichkeit etwas Heimeliges an. Doch man wollte nicht nur der Nostalgie frönen und so kamen neben historischen Werken von Gottfried Michael Koenig und Thomas Neuhaus (künstlerischer Leiter des ICEM, des 1990 gegründeten Instituts für Computermusik und elektronische Medien der Folkwang Universität) auch zwei Uraufführungen zu Gehör, die interessanterweise beide die Zwiesprache mit Instrumenten bzw. Stimme suchten. Oxana Omelchuk tritt in pok'u'pobka (Rochade) in Austausch mit dem Bassisten Constantin Herzog und verwandelt das zunächst äußerst zarte Rascheln und Knistern seines E-Basses zu immer dichteren Geräuschkaskaden. Dirk Reith und Florian Zwiessler holten in transactional interactions nicht nur die Mezzosopranistin Almerija Delic mit ins Boot sondern auch den Folkwangprofessor und Kommunikationsdesigner Claudius Lazzeroni, der die vokal aufgeladenen, sich immer mehr aufbäumenden Klangwogen durch korrespondierende flirrende Lichtwesen ergänzte. Das Bedürfnis nach Haptik, Körperlichkeit, Sinnlichkeit ist unübersehbar und hat zum nicht mehr ganz jungen Revival analoger Synthesizer in der sogenannten Modular-Szene beigetragen. Statt sich bewegungslos hinter einem Laptop zu verschanzen, kann man wieder richtig Hand anlegen und entgeht zudem den Einbahnstraßen reglementierender Software. Als Protagonisten dieser Szene waren das Elektronische Orchester Charlottenburg sowie Abgesandte von SchneidersLaden aus Berlin angereist. Das EOS-Klangspektrum reicht von feinsten Geräuschverfransungen – herrliches Knistern und Fitzeln an der Grenze der Hörschwelle – bis zu dichten, changierenden Klangflächen, die einen sogartigen Effekt auslösen. In SchneidersLaden, 'am Kotti überm Kaiser's' (inzwischen Rewe), kann man sich mit dem nötigen Equipment ausstatten, das besonders in der Clubszene begehrt ist, um rhythmusbasierte, hypnotische Klangflächen zu erzeugen. Bemerkenswert war der etwas hilflose Versuch der gestandenen Folkwangrecken, mit den Leuten von SchneidersLaden ins Gespräch zu kommen. Während diese glaubten, im Angesicht professoraler Würde auf ihre limitierten kompositorischen Fähigkeiten hinweisen zu müssen (die überhaupt niemand bemängelt hatte), zeigte sich die Professorenriege irritiert ob der Tatsache, das hier jemand sich an analogen Systemen zu schaffen macht, ohne ihre eigenen frühen Experimente in diesem Bereich auch nur im Geringsten zur Kenntnis zu nehmen.

Wie sich elektronische Musik pur, als reine Lautsprechermusik, ausmacht, konnte man bei der Präsentation der Jahres-CD der degem, der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik, erleben. Die acht Beiträge wurden ohne weitere Erläuterungen abgespielt und ließen die Zuhörer etwas ratlos zurück, was nur zum Teil daran lag, dass – wie vermutet – die angeblich für unser Empathievermögen verantwortlichen Spiegelneuronen bei Lautsprechern nicht anspringen. Ein paar Erläuterungen hätten schon geholfen, denn hinter den einzelnen Werken stecken teilweise interessante Geschichten und Überlegungen. Diese wurden in einem vormittäglichen Artist Talk offenbart, der allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand (ich glaube, ich war unter den Anwesenden die einzige Person, die nicht auf der CD vertreten ist!). Jan Jacob Hofmanns Beitrag Nocturnal Transit_remix entstand im Rahmen der Frankfurter Luminale, wobei unter dem Motto Licht aus Klang an eine ansonsten grell beleuchtete Schnellstraße vorübergehend in Dunkel gehüllt und die Autofahrer stattdessen über eine Radiofrequenz mit den sonst in ihrem abgeschotteten Käfig unhörbaren Umgebungsgeräuschen beschallt wurden. Thomas Gerwin lässt sich in Alchemic Process VI – materia prima von alchemistischen Gedankengängen anregen, um der eindimensionalen Computerlogik mehrdimensionale Beziehungsgeflechte und Analogien entgegenzusetzen und nutzt als prima materia oft Aufnahmen von Naturlauten. Der Wunsch nach sinnlich und körperlich Fassbarem war bei fast allen Referenten spürbar: Monika Golla und Nikolaus Heyduck experimentieren mit Wasserkochern und Ölkännchen und Hans Tutschku arbeitet bei Live-Performances mit einem bewusst reduzierten Equipment, um einen körperlich-intuitiven Zugang zu ermöglichen. Der Einblick in dieses künstlerische Biotop war für mich umso interessanter, da ich auch bei mir eine gewisse Reserviertheit beobachte, wenn zu viel Elektrotechnik im Spiel ist – weshalb ich diesem Bereich hier bewusst viel Raum eingeräumt habe.

Natürlich gab es in Essen auch eine Menge Instrumentalmusik zu hören. Ähnlich konzipiert wie das Kölner Achtbrücken-Festival versteht sich NOW! nicht als Uraufführungsfestival und erhebt nicht den Anspruch, das Rad der Musik neu zu erfinden. Stattdessen bietet sich die Gelegenheit, Klassiker der Neuen Musik in hochkarätigen Interpretationen zu genießen: Das JACK Quartet spielte Lachenmanns 3. Streichquartett Grido so ausgefeilt und feinfühlig, das mir der Atem stockte, Spahlingers 'fundamentale Gestaltkritik' passage/paysage – immerhin 30 Jahre alt und 45 Minuten lang – mit dem Ensemble Modern unter Leitung von Enno Poppe erhielt tosenden Beifall und Standing Ovations, das Folkwang Kammerorchester sorgte mit Ligetis Ramifications und Lutoslawskis Musique funébre für flirrende Streicherwogen und das Ensemble folkwang modern ließ mein Herz mit Mark Andres durch höher schlagen. Ferneyhoughs neues Stück für Orgel war leider nicht rechtzeitig fertig geworden, daher reiste das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Sylvain Cambreling mit Werken von Maderna, Grisey und Francesco Filidei an. Als besonderes Kleinod präsentierte die Sopranistin Victoria Vitrenko zusammen mit David Grimal (Violine), Niek de Groot (Kontrabass) und Luigi Gaggero (Zymbal) Kammermusik von György Kurtág, wobei sie ausdrucksstark nicht nur mit der Stimme sondern auch mit Gestik und Mimik in die feinsten Verästelungen seiner Miniaturen vordrang (besonders schön: Einige Sätze aus den Sudelbüchern Georg Christoph Lichtenbergs). Ausgerechnet die vom SWR Symphonieorchester mitgebrachte Frischware aus Donaueschingen hat mich weniger überzeugt – auch wenn Jürg Freys Elemental Realities laut Ohrenzeugen sich in der Essener Philharmonie akustisch deutlich besser entfalten konnten als am Uraufführungsort. Nach einem zart-webenden Beginn ist mir der weitere Verlauf zu voluminös und schwerfällig. Saed Haddad verwendet in Melancholia eine chromatische Mundharmonika als Soloinstrument (Solistin Hermine Deurloo), ertränkt sie aber in teils hochaufschäumenden Turbulenzen. Überzeugender fiel die Uraufführung von Rebecca Saunders neuem Werk Nether aus, auch wenn es sich letztlich im Bereich des für sie Üblichen bewegt. Basierend auf Molly Blooms Schlussmonolog aus Ulysses erkundet die Sopranistin Juliet Fraser mit der Musikfabrik mal fragil, mal harsch und turbulent, zwischen Wispern, Röcheln und expressivem Ausbruch eine schier unerschöpfliche Klang- und Gefühlspalette. Drei weitere Uraufführungen hatte das Ensemble hand werk im Gepäck: Georgia Koumarás Die wunderliche Gasterei (nach einem Märchen der Gebrüder Grimm) für einen Performer mit Effekt-Geräten, verstärktes Ensemble und Elektronik mit hohem Dichte- und Noisefaktor, To have to stand beneath my window with your bugle and your drum (nach Textzeilen von Leonard Cohen) von Emanuel Wittersheim mit ruhigen, langen Tönen, die sich gelegentlich in schrill-klirrende Höhen oder geräuschlastiges Terrain verirren, und unisono 4: Reflexe von Malte Giesen mit einem insistierenden Ton und diversen Ausbruchsversuchen, pendelnd zwischen Korsett und Wildwuchs.

Das alles wird abgerundet von Günter Steinkes angenehm lockeren Moderationen, dem einen oder anderen Freigetränk und einem Publikum, das inzwischen sogar aus Köln und Bonn, ja sogar aus Siegburg anreist.

 

[Termine im Dezember]

 

Köln

 

In der Philharmonie steht Musik von Bengt Hambraeus am 7.12., von Crumb, Kurtág u.a. am 8.12., von Lucia Ronchetti am 17.12. und von Marc-André Hamelin und Alvin Curran am 26.12. auf dem Programm. Das Gürzenich-Orchester spielt am 8., 9. und 10.12. Graciane Finzis Soleil vert für großes Orchester als Deutsche Erstaufführung, am 16.12. ist das Klangforum Wien zu Gast und am 19.12. das Schlagzeugensemble Repercussion. In der Kunststation Sankt Peter erwarten uns die Dezember-Improvisationen am 1.12., ein Lunchkonzert am 7.12., ein Performancekonzert mit Gerhard Stäbler und Kunsu Shim ebenfalls am 7.12., das Ensemble hand werk am 12.12. und das Silvesterkonzert am 31.12. Die Hochschule für Musik und Tanz kündigt das ensemble 20/21 am 5.12., einen Kompositionsabend am 7.12., ein Neue Musik-Konzert am 11.12. und eine Kollaboration mit der Musikfabrik am 20.12. an. Außerdem lädt die Musikfabrik am 16.12. zum Montagskonzert ins Studio.

Am 1.12. findet im Artheater die 12. Ausgabe der Konzert- und Performancereihe Containerklang statt, ebenfalls am 1.12. treffen das Zamus und Chamber Remix aufeinander und eine weitere Chamber Remix-Ausgabe folgt am 15.12.. Auf Einladung der reiheM bespielt Michaela Melián am 6. und 7.12. mit 1.630 Vinylschallplatten den Kölnischen Kunstverein und am gleichen Ort kommt es am 13.12. zur Reunion after Cage mit modifiziertem Schachbrett und Live-Elektronik. In der Alten Feuerwache ist am 13. und 14.12. noch einmal die musiktheatralische Choreografie Die verschwindenden Orte oder was uns retten kann mit Musik von Oxana Omelchuck zu erleben, am 17.12. kann man ebendort polnische Musikavantgarde des 20. & 21. Jahrhunderts entdecken und am 14.12. findet eine weitere Aufführung des illustionistischen Musiktheaters it's only a paper moon im Barnes Crossing statt. Im Stadtgarten stehen u.a. das EOS-Kammerorchester am 8.12. und Steve Beresford am 19.12. auf der Bühne und im Loft sind neben vielen anderen die Soundtrips NRW am 3.12., das Alexander von Schlippenbach Trio am 4.12. und das Trio Abstract am 11.12. zu Gast.

Weitere Termine finden sich bei kgnm und neuerdings auch wieder bei Musik in Köln und Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Im Dortmunder mex stehen am 14.12. die Orangen Gruppe, Jasmine Guffond und Ambassadors of Disappointment auf der Bühne. Im domicil gastiert am 3.12. Alexander von Schlippenbach mit seinem Trio und am 19.12. ist wieder The Dorf an der Reihe.

 

In der Essener Folkwang Universität erklingt im Rahmen des Kontrabass-Marathons am 21.12. unter dem Motto KontraModern Zeitgenössisches und am 12.12. ist wieder Zeit für die Tape Session. Am 15.12. gastiert die Musikfabrik ein weiteres Mal im Pact Zollverein und am 20.12. treffen Jan Klare und Florian Walter im Rahmen der Hardcore Easy Listening Boutique auf viele Überraschungsgäste. Termine mit improvisierter Musik finden sich wie üblich bei Jazz Offensive Essen.

 

Düsseldorf

 

Irene Kurka ist am 3.12. im Künstlerverein Onomato mit einem Solo für Stimme zu erleben, Gerhard Stäbler und Kunsu Shim begleiten am 5. und 6.12. in der Kunsthalle die Ausstellung Carroll Dunham / Albert Oehlen. Bäume mit einem Performancekonzert und die Tonhalle lädt am 17.12. zu X-Mas Contemporary.

 

Sonstwo

 

Im Rahmen von Soundtrips NRW sind vom 29.11. bis 10.12. die Saxophonistin Silke Eberhard und der Pianist Uwe Oberg in NRW unterwegs. Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich wie üblich bei nrwjazz.

 

Am 8.12. hat am Aachener Theater Der Zauberer von Oz, eine Oper für die ganze Familie von Anno Schreier, Premiere und die Gesellschaft für zeitgenössische Musik kündigt am 6.12. aktuellen Jazz mit Sternal, Grenadier und Burgwinkel und am 13.12. die Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' an.

 

Die Bielefelder cooperativa neue musik veranstaltet am 2.12. einen conradisischen. Abend mit Heidemarie Bhatti-Küppers und am 7.12. präsentiert das EOS-Kammerorchester in der Zionskirche Neue Musik & Jazz.

 

Bill Fontanas Klangskulptur harmonic time travel ist noch bis zum 12.12. vor dem Bonner Beethovenhaus zu erleben und am 4.12. ist das Vigato Quartett beim Wortklangraum zu Gast.

 

Im Rahmen des 3. Sinfoniekonzerts der niederrheinische Sinfoniker kommt Avner Dormans Mandolinenkonzert zur Aufführung – am 10. und 13.12. in Krefeld und am 11. und 12.12. in Mönchengladbach. Im Krefelder TAM steht weiterhin Gerhard Rühm im Mittelpunkt – im Dezember kommen Minidramen zur Uraufführung – und in Mönchengladbach lädt der Musiker und Komponist Miro Dobrowolny am 13.12., dem Vorabend seines runden Geburtstags, zum 3. Werkstattkonzert ein.

 

In der Musikhochschule Münster sind am 7.12. drei Trios zeitgenössischer Musik aus NRW zu Gast und in der Blackbox erwarten uns neben den Soundtrips NRW am 1.12. der litauische Sound-Performance-Künstler Arma Agharta am 7.12. und das Alexander von Schlippenbach Trio am 8.12.

 

Im Haus der Musiker auf der Raketenstation Hombroich bei Neuss begegnen sich am 6.12. das E-Mex-Ensemble und die Kölner Vokalsolisten.

 

Im Wuppertaler ort stehen die Soundtrips NRW am 4.12., das Schlippenbach Trio am 5.12., der cine:ort am 12.12. und Gunda Gottschalk und Dusica Cajlan-Wissel am 13.12. auf dem Programm. Im Skulpturenpark Waldfrieden findet am 8.12. ein Konzert mit Werken von Berio, Ligeti u.a. statt und im Rahmen der Reihe 'Plattform für transkulturelle Neue Musik' treten Matthias Mainz, Gregory Dargent und Anil Eraslan am 21.12. im Loch auf.

 

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