Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Februar 2022

Gewesen: Ensemble Modern in der Kölner Philharmonie – Musik der Zeit beim WDR – Zenders Winterreise in Duisburg

Angekündigt: Die Soldaten und Metropolis in der Kölner Philharmonie – Rossums Universal Robots ebenfalls in Köln u.v.a.m.

 

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[Ensemble Modern in der Kölner Philharmonie]

 

Immer mal wieder stößt man auf Ländernamen, die man noch nie gehört hat und die man auf der Weltkarte nicht zuordnen kann. Aber wer Hanyst und Mathuna nicht kennt, muss nicht verschämt zusammenzucken, denn es handelt sich um fiktive Produkte einer KI-Software, die die Fake-Nationen auf der Basis von Wikipedia-Artikeln auch mit Informationen zu Historie, Verfassung, Bevölkerung usw. versorgt hat. Die norwegische Komponistin Maja S. K. Ratkje hat sich jetzt um die nötige Begleitmusik gekümmert. Warum nicht? Die internationalen Sportorganisationen sind inzwischen so korrupt und verlottert, dass man sich nicht wundern würde, wenn demnächst ein von irgendeinem Multimilliardär aus dem Hut gezaubertes Phantasieland an den Start ginge und da kann es nicht schaden, schon einmal ein paar Nationalhymnen in der Hinterhand zu haben. Ratkje wirft reale National Anthems (so auch der Titel ihres neuen Werks), die der angenommenen Region des jeweiligen Landes entsprechen (Norland Boris zum Beispiel wird irgendwo in Südamerika verortet) in den Pool und lässt die künstliche Intelligenz damit schalten und walten. Leider ist das klingende Ergebnis nicht annähernd so amüsant wie das zugrunde liegende Konzept. Zunächst bin ich noch bereit, das Ganze witzig zu finden: Zu Gehör kommen freundliche Klaviersoli und schmissige Bläserpassagen garniert mit eingesprochenen oder auf eine Leinwand projizierten Länderinformationen, dazwischen ist Platz für kurze geisterhafte Zwischenspiele und chaotisch-improvisatorische Momente. Die Komponistin selbst tritt beherzt ans Mikrophon, singt aus voller Brust, lässt Plastikfolie rascheln usw.; aber der Gag ist schnell erschöpft, das Stück wirkt zunehmend hilflos und vorhersehbar. Man sagt, künstliche Intelligenz sei besser als natürliche Dummheit, aber beim jetzigen Stand der Technik scheint zumindest bei der Produktion von Kunst natürliche Intelligenz ein unverzichtbarer Bestandteil zu sein. Diese möchte ich Maja S. K. Ratkje auf keinen Fall absprechen, aber bei den National Anthems hat sie sich aus meiner Sicht zu sehr auf KI verlassen.

In Auftrag gegeben wurde das Stück von der Kölner Philharmonie und dem Ensemble Modern, das schon immer für Experimente zu haben war und damit oft Glück hat. Dass der Gastauftritt in Köln zum Jahresbeginn, am 6.1.22, auch diesmal Spaß machte, dafür sorgte Enno Poppe, der nicht nur am Dirigentenpult stand, sondern auch die zweite Uraufführung beisteuerte. Bei seinem neuen Werk Körper lässt er sich von den Bigbands der 20er Jahre inspirieren, deren klangliche Möglichkeiten aus seiner Sicht „nicht nur immens, sondern auch kaum ausgeschöpft“ sind. Mit historischem Material hat sich Poppe bereits früher auseinandergesetzt – besonders prominent in seinem Stück Rundfunk, das nicht nur diesem Medium ein Denkmal setzt, sondern vor allem den Sound alter Synthesizer aufleben lässt. Aber nostalgieselige Anwandlungen sind bei ihm nicht zu befürchten: Gleich zum Auftakt lässt er die Zügel schießen und entfacht einen fulminanten, überbordenden Wildwuchs. Erst nach knapp fünfzehn Minuten wird etwas ruhigeres Fahrwasser erreicht, was ihm die Möglichkeit gibt, die unterschiedlichsten Gestade zu erkunden. Um sich dem Bigband-Sound anzunähern, ist die Bläserfraktion überwiegend doppelt besetzt, aber auch die E-Streicher, zwei Synthesizer und vor allem drei Schlagzeuger (mal fell-, mal metall-, mal holzlastig) sorgen für eigenwillige Klänge. Poppe lässt sie jaulen und quengeln, sich festbohren und wieder ausbrechen, zelebriert perkussiv untermalte Bläserlinien und leiernde Synthesizer und verbreitet – wie schon die Bands vor 100 Jahren – gute Laune.

 

[Musik der Zeit beim WDR]

 

Das erste Musik der Zeit-Konzert des Jahres am 15.1. bestritt das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Elena Schwarz mit einem Programm aus älteren und neueren Werken: Xenakis' Akrata für 16 Blasinstrumente ist selbst nach über 50 Jahren noch voller Energie und auch magma VII (1984) der viel zu selten gespielten argentinischen Komponistin Graciela Paraskevaídis ließ aufhorchen. In Blöcken wälzen sich dunkle Klangmassen heran, stapeln sich übereinander, werden von hohem Zirpen zersetzt und von harschen Schreien zerrissen. Im Kontrast zu dieser Bläserdominanz konzentriert sich Lisa Streich in Mantel (2018) auf das Streichorchester, das sie als äußerste Schicht, als 'Haut des Orchesters' empfindet und durch zwei Schlagzeuger ergänzt. Die Haut, unser größtes Sinnesorgan, verbindet uns mit und trennt uns von der Welt, schützt uns und macht uns verletzlich. Diese Verletzlichkeit wird sinnfällig, wenn zarte wie hingehauchte Klänge von harten Schlägen wie von Stichen zerteilt werden. Zwischendurch vermitteln melodische Anklänge eine trügerische Vertrautheit, legen Fährten, die ins Nirgendwo führen, sich in nervösem Flirren verlieren oder brutal zerhackt werden. Ungewissheit, Instabilität und Spannung vermittelt auch Natalia Solomonoffs Orchesterstück Incierto Suelo Cielo für Orchester, das die politische Situation in ihrer Heimat Argentinien zur Zeit der Entstehung 2018 spiegelt. Gleich zum Auftakt schiebt sich ein bedrohlich brodelnder dunkler Klangfluss in den Vordergrund, der zunehmend von Löchern und Rissen aufgelöst wird.

Ausgerechnet die einzige Uraufführung des Abends, ein Saxophonkonzert von Peter Eötvös entpuppte sich als Enttäuschung. Daran konnte auch der hervorragende Marcus Weiss als Solist nichts ändern. Der Titel Focus führt in die Irre, denn hier fokussiert sich nichts, stattdessen plappert die Musik geschwätzig vor sich hin, mäandert unentschlossen zwischen Jazz und Klassik, probiert alle Schuhe mal an, tritt eifrig auf der Stelle und kommt doch keinen Meter vom Fleck.

 

[Zenders Winterreise in Duisburg]

 

Wenn schon in alten Zeiten wildern, dann doch gleich so beherzt wie Hans Zender mit seiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, die sich auch fast 30 Jahre nach der Uraufführung noch in den Konzertprogrammen behauptet; wie jetzt in der Duisburger Mercatorhalle mit den Duisburger Philharmonikern unter der Leitung von Axel Kober. Man merkt zwar, dass es sich nicht um ausgewiesene Neue Musik-Experten handelt, aber Zenders Version, die den originalen Klavierpart auf sehr eigenwillige Art dem Orchester anvertraut, lässt sich ihre Ecken und Kanten nicht austreiben und die Musiker und Musikerinnen sind mit Energie und Engagement bei der Sache. Schon der Auftakt, wenn die Bläser einzeln Richtung Bühne wandern und irrlichternde Klänge in den Raum tupfen, ist ein Gänsehautmoment. Weniger überzeugt hat mich der Solist Klaus Florian Vogt, ein wagnergestählter Heldentenor, der an diesem Abend eher zahm und 'gar so lau' ans Werk geht. Während dichtes Bläsergegrummel unter der Rinde schwillt, während die Musik selbst dann, wenn sie uns wie in Der Lindenbaum mit Gitarren- und Harfengesäusel einlullt, Abgründe offenbar, bleibt er brav an der Oberfläche – unberührt von dem musikalischen Chaos in seinem Rücken, das durch die Ruhelosigkeit der Musiker noch verstärkt wird. Sie wandern durch den Saal oder formieren sich zu Fernorchestern, deren Klänge durch die geöffneten Türen hereindringen. Wenn es denn unbedingt sein muss, gewinnt Vogts Stimme an Lautstärke aber nicht an Schärfe oder Tiefe. Im Gegensatz zum Instrumentalpart lässt Zender die Gesangspartie weitgehend unangetastet, aber selbst da, wo er wie in Der stürmische Morgen den Stimmfluss vom Sturm zerreißen lässt, klingt es bei Vogt wie unbeholfenes Stolpern. Der gelegentliche Einsatz eines Mikrophons führt nicht zu Doppelbödigkeit sondern zu doppelter Emphase.

Diese Diskrepanz zwischen Gesang und Instrumentalmusik macht die Duisburger Interpretation der Zenderschen Interpretation zu einem so sicher nicht intendierten Abbild der politischen Verhältnisse zu Schuberts Zeiten: Vor meinem inneren Auge sehe ich den braven Biedermann steif in seinem Biedermeiersessel sitzen, während – von ihm unbemerkt – in der Standuhr Metternichs Spitzel lauern und unterm Sofa die Presse gemeuchelt wird.

 

[Termine im Februar]

 

Pandemiebedingt hagelt es schon wieder Absagen; ob bzw. unter welchen Umständen die angekündigten Konzert stattfinden, wird sich daher erst kurzfristig entscheiden – also unbedingt vorher erkundigen.

 

Köln

 

In der Philharmonie erwarten uns gleich zwei Highlights: Die Soldaten von B.A. Zimmermann am 12.2. und Fritz Langs Metropolis mit Musik von Martin Matalon am 16.2. und 17.2. sowie Orgel plus Percussion am 14.2. In der Alten Feuerwache stehen die intermediale Musikperformance Polis – Die Stimmen der Stadt vom 10. bis 13.2., Sand mit dem Scott Fields Ensemble am 20.2., das Ensemble Inverspace am 21.2. und das ensemble hand werk am 23.2. auf dem Programm. Am 5. und 6.2. bringt gamut inc Rossums Universal Robots, ein Musiktheater nach Karl Capek, zur Aufführung, Eva-Maria Houben ist am 12. und 13.2. mit zwei Konzerten in der Johanneskirche zu erleben, die Musikfabrik ist am 20.2. mit Werken von Mikolaj Laskowski, Francesco Ciurlo und Oscar Bianchi beim WDR zu Gast und am 23.2. findet die nächste Soirée Sonique statt.

Fast tägliche Events sind im Loft zu erleben (z. B. am 5.2. das Analog Terzett) und jeden 2. Dienstag im Monat funkt 674.fm live Elektronik und Klangkunst in den Äther. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln sowie ON – Neue Musik Köln und Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Im Dortmunder domicil gibt am 17.2. die Großformation The Dorf ihr monatliches Gastspiel, am 8.2. findet im Kunstmuseum Bochum ein Konzert mit dem Pianisten Craig Taborn statt und die Essener Folkwang Univesität kündigt Frische Klänge am 1.2., ein Konzert der Integrativen Komposition am 2.2. und Masterabschlüsse Neue Musik am 7. und 8.2. an.

 

Düsseldorf

 

In der Tonhalle setzt das notabu ensemble am 2.2. seine Reihe 'Na hör´n Sie mal…' mit Werken von Günther Becker, Luciano Berio, Christóbal Halffter und Mark-Andreas Schlingensiepen fort.

 

Sonstwo

 

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik kündigt das Trio Abstract am 5.2. und das Cologne Contemporary Jazz Orchestra am 12.2. an.

 

In der Bielefelder Zionskirche stehen ein Konzert mit dem Ensemble Earquake am 6.2. und ein Orgelkonzert mit Martin Herchenröder am 13.2. auf dem Programm.

 

Bereits am 4.2. ist das Ensemble Earquake in seinem Heimathafen, der Detmolder Hochschule für Musik, zu erleben. Im Landestheater hat am 16.2. Die Zeitreisemaschine, eine Familienoper von Detlef Heusinger, Premiere.

 

In der Evang. Kirche Hoerstgen in Kamp-Lintfort lassen Eva-Maria Houben an der Orgel und Christoph Nicolaus an der Steinharfe am 11.2. die Ohren atmen.

 

Friedrich Ludmann bespielt mit Rochus Aust und Verena Barié am 5.2. den Solinger Lichtturm und im Galileum ist am 10.2. das Ensemble Horizonte zu Gast.

 

Im Wuppertaler ort ist am 4.2. in der Reihe 'all female' ein Konzert mit Ute Völker, Angelika Sheridan und Carolin Pook geplant und am 13.2. werden die Pianistin Julie Sassoon und der Schlagzeuger Willi Kellers erwartet.

 

Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

 

Und gar nicht weit entfernt, in Trier, findet vom 10. bis 13.2. allen Widrigkeiten zum Trotz Opening, das internationale Festival für Aktuelle Klangkunst, statt. Am 12.2. kommt Das Schweigen der Dafne für eine Tänzerin, einen Schauspieler und Kammerensemble mit Musik von Christina C. Messner nach einem Text von Georg Beck zur Aufführung.

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

 

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