Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Januar 2020
Gewesen: Ausflug zur Ars Musica in Brüssel
Angekündigt: Frakzionen in Bielefeld – Kontraste in Köln – Winterakademie in Duisburg u.v.a.m.
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[Ars Musica in Brüssel]
Ausnahmsweise möchte ich diesmal über den nordrhein-westfälischen Tellerrand hinausblicken und von der Ars Musica in Brüssel berichten, die in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen feierte. Vor allem mit ihren Anfängen in den 90er Jahren verbinden mich viele persönliche Erinnerungen. Unvergessen sind für mich vor allem eine Aufführung von Heinz Holligers Scardanelli-Zyklus im Jahr 1994 sowie Nonos Prometeo in einer Inszenierung von Robert Wilson im Jahr 1997. Irgendwann habe ich das Festival angesichts des immer reichhaltigeren Angebots vor der eigenen Haustür aus den Augen verloren und als mich jetzt Ende November mein Weg wieder einmal nach Brüssel führte, stellte ich erfreut fest, dass sich der Aufführungszeitraum vom Frühling in den Herbst verlagert hat und sich so für mich die Gelegenheit bot, mehrere Veranstaltungen zu besuchen. Das erste Konzert fand in dem schönen Konzertsaal des in den 1920er Jahren von Victor Horta geplanten Bozar statt, wo das Orchestre Philharmonique Royal de Liège mit Henri Dutielleux' Cellokonzert Tout un monde lointain, Strawinskys Feuervogel und einem neuen Werk des belgischen Komponisten Benoît Mernier zu erleben war. Mernier gehört zu jener besonderen Spezies belgischer Komponisten, die sich von den kompositorischen Entwicklungen der letzten 100 Jahre nahezu unbefleckt zeigen und auch in Comme d'autres esprits bewegt er sich mit sicherem Schritt im vertrauten Terrain hochromantischer Klangsprache. Dass er damit nicht alleine steht, zeigte das Projekt Pierrot Rewrite, das Bezug nimmt auf Schönbergs berühmtes Melodram Pierrot Lunaire. Das einstige Skandalstück zeichnet sich vor allem durch die besondere Behandlung der Sprechstimme aus und gilt heute als Meilenstein der Moderne. Der zugrundeliegende Gedichtzyklus stammt aus der Feder des belgischen Symbolisten Albert Giraud und so entstand die Idee, die Texte erneut zu befragen und diesmal belgische Landsleute ans Werk zu lassen. Gemeinsam mit dem Ensemble Musiques Nouvelles beauftragte Ars musica 21 belgische Komponisten, jeweils ein Gedicht auszuwählen, neu zu vertonen und so einen neuen Zyklus zu kreieren. Die von Schönberg gelegte Latte liegt natürlich hoch und so taten die Beteiligten gut daran, sich davon nicht sonderlich beeindrucken zu lassen und ihr eigenes Ding zu machen. Auch beim Hören empfahl es sich, nicht im Vergleichsmodus zu verharren, was durch den Umstand erleichtert wurde, dass die Texte im französischen Original erklangen und die meisten Komponisten einen klassischen Gesangsstil favorisierten. Lediglich Todor Todoroff tanzte aus der Reihe, indem er ein Tonbandstück mit sich überlagernden, flüsternden, flirrenden, in den Raum ausgreifenden Stimmen präsentierte. Die übrigen legten der Mezzosopranistin Pauline Claes gut sangbare Lieder in den Mund, mal ausdrucksvoll schwelgend, mal expressionistisch aufgekratzt, mal melancholisch verdüstert, mal fahl verschleiert. Manches hätte auch in einer Bar mit gehobenem Publikum erklingen können, das war insgesamt schön anzuhören hatte aber eher nostalgisches Flair. Als sich zum Schlussapplaus die Beteiligten im Publikum erhoben, wähnte ich mich denn auch von einer gediegenen Herrenriege umgeben (irgendwo müssen sich auch zwei Frauen versteckt haben, die ich jedoch – falls sie überhaupt anwesend waren – nicht ausmachen konnte).
Aber Ars musica kennt auch andere Seiten und der bereits erwähnte Todor Todoroff schlug die Brücke zum fast zeitgleich stattfindenden Festival Loop 11, das sich als 'Festival de musiques contemporaines, acoustiques, électroacoustiques et mixtes' ausweist und gemeinsam mit Ars musica ein Doppelkonzert im Le Senghor, einem Veranstaltungsort im Stadtteil Etterbeek, ausrichtete. Im ersten Teil lässt Gilles Gobert unter dem Titel Thickness Flows seine Live-Elektronik mit Klavier (Véronique Delcambre), Tanz (Maya Oliva) und Video (Inger Elisabeth Gleditsch) in einen Dialog treten, wobei jeder auf den anderen reagiert und trotzdem seine Unabhängigkeit wahrt. Einen Moment lang scheint sich das mal dumpfe, mal sanfte Pochen der Elektronik auf die Tänzerin zu übertragen, die teils punktuellen, teils aggressiv insistierenden Klavierklänge geraten in einen flirrenden, vibrierenden Sog, doch nichts ist eindeutig, alles bleibt – wie der Titel andeutet – im Fluss, der zum Schluss immer schriller und dringlicher anschwillt bevor er plötzlich abreißt und verrinnt.
Todoroff schafft im zweiten Teil mit eVanescens eine besondere Versuchsanordnung, indem er die Performerin (Sigrid Vandenbogaerde, Cello und Stimme) mit Bewegungssensoren ausstattet. Die Verschmelzung von Visuellem und Akustischem kulminiert in einem fulminanten Schlussbild, in dem eine im Video unendlich vervielfachte Tänzerin zum Klang der immer drängenderen Musik sich in einen ornamentalen Strudel aufzulösen scheint.
Für auswärtige Besucher besteht ein besonderer Reiz von Ars Musica darin, neue Veranstaltungsorte und damit neue Winkel der Stadt zu entdecken: Über die Chaussée de Wavre, die als Hauptschlagader des afrikanisch geprägten Viertels Matonge gilt, erreicht man Le Rideau im Stadtteil Ixelles, wo das Streichquartett Quatuor Tana mit einem energiegeladenen Programm aufwartete: Als Uraufführung kam Régis Campos Borderline Activity zu Gehör, das deutlich von House und Techno beeinflusst, dadurch schön laut und wild, aufgrund der dominanten Rhythmen aber auch berechenbar ist. Steve Reich verarbeitet in WTC 09/11 den Terrorakt auf das World Trade Center und lässt O-Töne der Einsatzkräfte einfließen, die er durch markante Rhythmen verschweißt. Mein Favorit des Abends war Fausto Romitellis Natura Morte con Fiamme, in dem die Streicherklänge durch die Elektronik aufgeladen und vervielfältigt werden, sich verzwirbeln, flirrend entgleiten oder kantig und knarzig ausfransen.
Mein Aufenthalt in Brüssel wurde abgerundet durch ein Konzert mit Garth Knox und damit ein weiteres Anknüpfen an die Anfänge meiner Leidenschaft für Neue Musik. Von 1990 bis 1997 war Knox Bratschist im Arditti Quartet und prägte so meine ersten Begegnungen mit dem Ensemble. Im Brüsseler königlichen Musikkonservatorium war er zum Abschluss eines Workshops mit seinen Studenten zu erleben und brachte Werke von Ligeti und Liza Lim zu Gehör.
So hat mein Besuch der Ars Musica alte Erinnerungen geweckt und gleichzeitig das Festival neu in den Fokus gerückt, zumal Brüssel – gerade einmal zwei Stunden entfernt – immer eine Reise wert ist. Mal sehen, was uns im nächsten Jahr erwartet.
[Termine im Januar]
Köln
Die Philharmonie startet im neue Jahr mit einem Konzert des Ensemble Modern am 6.1., einem neuen Streichquartett von Jörg Widmann am 15.1. und dem Cellokonzert von Nico Muhly, Sven Helbig und Zhou Long am 23.1. ON – Neue Musik Köln hat am 14.1. Gordon Kampe zum Composertreff eingeladen und bietet am 18.1., 21.1. und 28.1. wieder Fortbildungen für Freischaffende der zeitgenössischen Musikszene an. In der Kunststation Sankt Peter finden am 18. und 25.1. Lunchkonzerte statt. Im Musik-der-Zeit-Konzert am 11.1. im WDR Funkhaus erklingen Werke von Bruno Maderna, Beat Furrer und Márton Illés, in der Kunsthochschule für Medien ist am 16.1. in der Reihe soundings die Musikerin und Komponistin Elisabeth Schimana zu Gast, im musikwissenschaftliche Institut der Uni Köln stellen sich am 17.1. Salomé Voegelin und Martin Stokes vor, in der Alten Feuerwache erklingt am 24.1. frei improvisierte Musik, am 27.1. findet in Sankt Maria in Lyskirchen ein Konzert zum Holocaustgedenktag statt, bei der Soirée Sonique am 29.1. treffen Frank Niehusmann, Hainer Wörmann und Georg Dietzler aufeinander, die Musikfabrik veranstaltet vom 31.1. bis 2.2. ein kleines Festival unter dem Titel Kontakte und fast tägliches Programm gibt es wie üblich im Loft. Weitere Termine finden sich bei kgnm und bei Musik in Köln und Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.
Ruhrgebiet
Im Dortmunder Konzerthaus erklingt Musik von Frederic Rzewski am 9.1. sowie von Jörg Widmann am 25.1. und im Domicil präsentiert die Reihe Umland am 29.1. Brenda und die Crashing Airplanes. Irene Kurka ist am 23.1. im Rahmen eines Workshops zum Thema 'Klavierlied in der zeitgenössischen Musik' im Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund zu Gast. Den Abschluss bildet ein Konzert am 30.1.
Vom 30.1. bis 6.2. laden Gerhard Stäbler und Kunsu Shim zur Winterakademie mit Vorträgen und Konzerten in den Duisburger Earport, die Kulturkirche Liebfrauen sowie ins Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut. Im 5. Kammerkonzert in der Mercatorhalle wird ein neues Werk von Thomas Blomenkamp aus der Taufe gehoben.
In der Esssener Folkwang Universität erwarten uns Tape Sessions am 9.1. und 30.1., Kompositionen von Folkwang Dozierenden am 13.1., das Impr%rchester am 17.1., ein Klassenabend Neue Musik am 22.1., frische Klänge am 24. und 30.1. und Konzerte der Integrativen Komposition am 27.1. und 28.1. In der Philharmonie trifft am 18.1. das Schlagwerkensemble Repercussion auf DJ Phil und am 24.1. stellen drei Essener Schulklassen im Rahmen des Kompositionsprojekts sound LAB eigene Werke vor. Die Jazz Offensive Essen lädt vom 16. bis 18.1. zum 24. JOE-Festival und präsentiert auf ihrer Website weitere Veranstaltungen mit improvisierter Musik.
Im Bürgerhaus Süd in Recklinghausen findet am 14.1. das Festival integral::musik 320 mit Ur-, Erst- und Gedenkaufführungen statt.
Düsseldorf
In der Robert Schumann Hochschule stellen am 12.1. Studierende der Kompositionsklasse Prof. Oliver Schneller neue Werke vor, in der Kunstsammlung K21 ist am 18.1. Carsten Nicolai in seiner Parallelexistenz als Musiker Alva Noto live zu erleben, in der Johanneskirche erklingen am 19.1. in einem Orgelkonzert Werke von Hanne Darboven und in der Tonhalle präsentiert das Notabu-Ensemble am 24.1. großes und kleines Kino. Im Tanzhaus NRW findet vom 9. bis 18.1. das Festival Temps d'Image statt mit interaktiven Installationen, Performances, Virtual Reality und einem medialen Konzert mit Brigitta Muntendorf und dem Ensemble Garage.
Sonstwo
Beim Festival für zeitgenössische Musik Frakzionen in der Bielefelder Zionskirche wirken vom 10. bis 12.1. neben vielen anderen die Ensembles recherche, Earquake, S201 und Kommas mit. Der Eintritt ist wie immer frei. Die cooperativa neue musik veranstaltet am 6.1. einen Hörabend und in der Zionskirche sind am 19.1. und 26.1. weitere Konzerte mit neuer Musik zu erleben.
Das E-Mex-Ensemble gastiert am 19.1. in der Bonner Trinitatiskirche mit dem Programm The Long Road und im Dialograum Kreuzung an Sankt Helena wird am 27.1. in einem Gedenkkonzert der Opfer des Nationalsozialismus gedacht.
Im Neujahrskonzert des Detmolder Landestheaters erklingt am 5.1. Gordon Kampes Konzert für Saxophon und Orchester und in der Hochschule für Musik stehen ein Konzert mit dem hauseigenen Ensemble Earquake am 10.1., Viktor Ullmanns Kammeroper Der Kaiser von Atlantis am 12.1., ein Werkstattkonzert der Schlagzeugklasse am 17.1. und die Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 29.1. auf dem Programm.
Antoine Beuger startet das Neue Jahr am 1.1. in Haan mit einem Neujahrskonzert im Atelier mit Musik von Johann Jakob Froberger und Eva-Maria Houben.
Das Krefelder TAM befasst sich im Januar – immer freitags um 22 Uhr – mit Gerhard Rühms Das Leben Chopins.
In Moers übergibt am 11.1. der aktuelle Improviser in residence Emilio Gordoa in einem Übergabekonzert den Staffelstab an seine Nachfolgerin.
In der Black Box in Münster erwarten uns improvisierte Musik am 12.1., die Frauenband Hilde am 17.1., die elektroFlux-Session am 23.1. und das Künstlerkollektiv Drei Orangen mit dem interdisziplinären Stück Contest am 24.1. (weitere Aufführung am 31.1. im Macroscope in Mülheim). Am 31.1. ist Martin Kohlstedt auf Burg Vischering in Lüdringhausen zum Auftakt des Pianeo-Festivals der Neoklassik zu erleben, das noch bis zum 22.2. an verschiedenen Orten in Münster und Umgebung stattfindet.
Das Studio für Neue Musik der Uni Siegen kündigt Berios Folksongs am 16.1. sowie ein Orgelkonzert in der Nicolaikirche am 23.1. an.
Der Fonds für experimentelles Musiktheater feXm des NRW Kultursekretariats kooperiert erstmals unter dem Namen Noperas! mit dem Theater Bremen und der Oper Halle. Seine Premiere erlebt das neue Projekt Chaosmos, eine Logistik-Oper von Marc Sinan, Tobias Rausch und Konrad Kästner, aber in NRW und zwar am 11.1. im Wuppertaler Opernhaus. Der ort kündigt den cine:ort am 9.1., einen Vortrag über Improvisation am 17.1., das Duo So Seet am 18.1. und Literatursound mit Partita Radicale am 23.1. an.
Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW
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