





Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Juli 2025
Gewesen: neue Opern in Köln, Hagen und Wuppertal – neue Konzertreihe Ritual in Köln
Angekündigt: Folkwang Woche Neue Musik in Essen – Wandelweiser-Klangraum in Düsseldorf – Triennale in Monheim u.v.a.m.
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[Neue Opern in Köln, Hagen und Wuppertal]
Zum Abschluss der Spielzeit sind die Opernhäuser in NRW noch einmal aktiv geworden. Gleich vier neue Opern, davon zwei Uraufführungen und eine deutsche Erstaufführung, waren zum Saisonabschluss zu erleben.
Den Auftakt machte die Oper Köln mit einer Inszenierung von La Passion de Simone (Premiere am 18.5.25) der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, die in diesem Jahr auch im Zentrum des Achtbrückenfestivals stand. Das Werk befasst sich mit Simone Weil, einer widersprüchlichen Figur, die man mit den üblichen Zuschreibungen als Philosophin, Mystikerin oder gar Sozialrevolutionärin nicht wirklich zu fassen bekommt. Weil (1909 bis 1943) entstammte einer großbürgerlichen, jüdischen, säkularen Familie, begann zunächst ein Philosophiestudium und versuchte es dann mit der Praxis. Sie nahm einen Job in einer Fabrik an und engagierte sich im spanischen Bürgerkrieg und der Résistance, scheiterte aber an ihrer schwachen gesundheitlichen Konstitution und an ihrer mangelnden Realitätstauglichkeit (de Gaulle hielt sie für ungeschickt und 'verrückt'). Schließlich näherte sie sich dem Christentum an und hungerte sich aus 'Solidarität' mit ihren französischen Landsleuten im Exil in London zu Tode. In ihrem weltfremden Masochismus ist Weil nicht gerade eine Sympathieträgerin und auch Saariaho fällt die Annäherung offenbar nicht leicht. In La Passion de Simone ist sie nur als körperlose Stimme mit einigen Zitateinspielungen präsent; im Zentrum steht stattdessen eine namenlose Frau (Sopran Lavinia Dames), die Weils Leben und Denken in fünfzehn Stationen Revue passieren lässt. Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht, weshalb das Werk konsequenterweise als Oratorium konzipiert ist, auch wenn Saariaho zeitlebens für eine szenische Aufführung plädierte. Die Sperrigkeit des Sujets und der Form stellen somit eine doppelte Herausforderung dar, der sich die Regisseurin Friederike Blum stellt, indem sie die Schwierigkeit und letztlich Vergeblichkeit einer Annäherung explizit zum Thema macht. Sie kreiert einen ganz in Weiß gehaltenen, anfangs von Vorhängen umfassten Raum, der von Weils überlebensgroßer Büste auf einem Podest beherrscht wird – stumm, erstarrt, unnahbar. Im weiteren Verlauf öffnet sich der Raum, das Vokalensemble und das Orchester werden sichtbar, im Hintergrund erscheinen 14 identische, kleinere Büsten, doch sie symbolisieren ebenfalls nur die Unmöglichkeit einer Kontaktaufnahme. Dabei lässt die Sopranistin unterstützt von Chor und Statisterie nichts unversucht: Die Büsten werden durchleuchtet und betastet, das Foto aus Weils Fabrikausweis wie ein Banner gehisst, ihre Texte erscheinen als Projektionen und Zuspielungen, werden sogar als Postkarten verteilt, christliche Symbolik, die bereits im Titel anklingt (Passion), wird bemüht, eine Art Abendmahl inszeniert, Weil zur Märtyrerin stilisiert. Doch hinter diesem ins Leere laufenden Aktionismus breitet sich eine lähmende Vergeblichkeit aus, der auch die akustische Ebene nichts entgegenzusetzen hat. Saariaho schreibt die für sie typische delikate Musik; eine Musik die sich behutsam anschmiegt, in changierenden Farbklängen schwelgt, passend zu einem Zitat Weils („der Stille zuhören können“) kurzzeitig ganz versiegt, sich dann wieder aufbäumt und rhythmisch zuspitzt, der aber eine gewisse Unverbindlichkeit anhaftet (oder habe ich mich beim Achtbrückenfestival an ihrer Musik einfach satt gehört?). Wenn man dem Werk und vor allem der Inszenierung etwas zugutehalten will, dann ist es die Entzauberung der Person Simon Weil. In der Kölner Inszenierung erscheint sie nicht als tiefgründige, vergeistigte Märtyrerin, die sich für die Welt geopfert hat, sondern im Gegenteil als eine an sich und der Welt Gescheiterte, der es an einer entscheidenden zwischenmenschlichen Fähigkeit fehlte – der Empathie. Sie selbst bringt dies treffend zum Ausdruck mit dem Satz „Nichts, was existiert, ist der Liebe vollkommen würdig. Darum muss man lieben, was nicht existiert.“ Zum Schluss erscheint die Sopranistin, jetzt gänzlich mit Weil identifiziert, aufgebahrt als Opfer, über dem noch unbearbeitete Marmorblöcke schweben, die man als Zeichen uneingelöster Möglichkeiten interpretieren kann. Ob es diese gegeben hätte, wenn Weil länger gelebt hätte, bleibt fraglich. Die Figur, die uns auf der Bühne gezeigt wird, lässt keine Entwicklung erkennen. Immerhin kann man sich von Lavinia Dames klarer Stimme, dem Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Christian Karlsen und dem achtköpfigen Vokalensemble wohlig durch den Abend geleiten lassen.
Bislang hat es mich noch nicht oft nach Hagen gelockt, aber diesmal bin ich neugierig geworden. Francis Hüsers, seit 2017 Intendant am dortigen Theater, hat kurz vor seinem Abschied der Stadt ein besonderes Geschenk gemacht und mit American Mother eine Uraufführung in Auftrag gegeben, die nicht nur ein brisantes zeitgenössisches Thema in den Blick nimmt, sondern auch internationales Personal in Hagen versammelt. Mit Diane Foley (die im Rahmen eines Publikumsgesprächs in Hagen zu Gast war) steht wie bei Saariaho eine ungewöhnliche, nicht-fiktive Frauengestalt im Fokus, doch diese wagte sich tatsächlich in die Höhle des Löwen. Foley ist die Mutter von James Foley, eines US-amerikanischen Journalisten, der von Terroristen des sog. Islamischen Staates gefangengenommen, gefoltert und ermordet wurde. Ein im Internet verbreitetes Video, das seine mutmaßliche Enthauptung zeigt, sorgte 2014 weltweit für Entsetzen. Einige Jahre später wurde Alexanda Kotey, einer der Täter und ebenfalls US-Amerikaner, festgenommen und nach seiner Überführung in die USA dort zu lebenslanger Haft verurteilt. Diane Foley war als einzige Angehörige bereit, ihm gegenüberzutreten, dreimal ist sie ihm begegnet. Als Resultat verfasste sie gemeinsam mit dem irischen Autor Collum McCann, der bei den Treffen anwesend war, das Buch American Mother, auf dessen Basis McCann das Libretto der jetzt in Hagen uraufgeführten Oper entwickelte. Wie lässt sich ein solcher Plot auf die Bühne bringen, wie lässt sich dazu Musik schreiben? Die Herausforderung angenommen hat die britische Komponistin Charlotte Bray (*1982), die sich zwar schon mit brisanten Themen befasst hat (so zum Beispiel in ihrem 2016 uraufgeführten Cellokonzert, das auf die Zerstörung von Palmyra Bezug nimmt), mit American Mother jedoch ihr erstes abendfüllendes Bühnenwerk vorlegt. Zum Auftakt hören wir zartes Sirren, helles, gläsernes Schlagwerk, das langsam eine dunkle, bedrohliche Färbung annimmt, während Diana Foley sich spürbar nervös auf die anstehende Begegnung vorbereitet. Katharine Goeldner geht ganz in dieser Rolle auf, ihre Zweifel, ihre Trauer, aber auch ihre Wut und ihre Entschlossenheit sind jederzeit spürbar. Ihr gegenüber verkörpert Timothy Connor eindrücklich einen nicht nur äußerlich in Ketten liegenden sondern auch in sich selbst gefangenen Kotey, der sich zunächst als reinen Befehlsempfänger inszeniert, dann sein eigenes Lebenselend beklagt und sich schließlich mit abgehackter Staccatostimme und äußerstem Widerstreben auf eine Versöhnungsgeste einlässt, indem er Foleys ausgestreckte Hand annimmt. Diese Szene, die die Oper beschließt und die es wohl tatsächlich so gegeben hat, wirkt nur deshalb nicht kitschig, weil sie nicht als hollywoodeskes Happyend aus dem Hut gezaubert sondern als Ergebnis eines beiderseitigen inneren Ringens präsentiert wird und eingebettet ist in eine Inszenierung, die auf jedes falsche Brimborium verzichtet. Travis Prestons Regie in einem Bühnenbild von Christopher Barreca konzentriert sich auf das Wesentliche: Die Bühne ist über den Orchestergraben an das Publikum herangezogen und beschränkt sich auf sparsames Mobiliar. Kurze Bildeinblendungen (ein arabischer Text, eine Ruinenlandschaft) unterstreichen die Stimmung ohne vom Geschehen abzulenken. Ergänzt wird dieses konzentrierte Kammerspiel durch drei Nebenfiguren: Dong-Won Seo verkörpert als Gefängniswärter (in US-Orginalmontur!) eine von Rache und Ressentiment erfüllte Gegenstimme. Als imaginierte Figuren ergänzen der ermordete James Foley (Roman Payer) und Koteys Mutter (Angela Davis) das komplexe Beziehungsgefüge. Bray schreibt dazu eine zugängliche Musik, die gelegentlich durch Spiel im Klavierinneren, geräuschhafte Artikulationen und umfangreiches Schlagwerk spezielle Akzente setzt. Eine besondere Rolle nimmt der Chor ein, der die Solopartien an einigen Stellen wie ein Schatten umfängt, anfangs nebulös, kaum greifbar, dann musikalisch und physisch immer präsenter, bis er schließlich real auf der Bühne erscheint. Hierdurch sowie durch Diane Foleys Versöhnungsgeste entsteht eine positive Perspektive, das Unbehagen ist nicht verschwunden, aber die Personen, allen voran Diane Foley, lösen sich aus ihrer Isolation und Erstarrung und erobern sich ihre Handlungsfähigkeit zurück. In Hagen ist eine sowohl szenisch als auch musikalisch gelungene Umsetzung zu erleben (Philharmonisches Orchester Hagen unter der Leitung von Joseph Trafton), die den Weg in jedem Fall gelohnt hat.
Auch die Wuppertaler widmen sich mit der deutschen Erstaufführung der Oper Thumbprint einer ganz besonderen Frau. Die Rede ist von Mukhtar Mai, die 2002 Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde, jedoch nicht – wie von der Tradition gefordert – Selbstmord beging, sondern als erste pakistanische Staatsbürgerin überhaupt die Straftat zur Anzeige brachte und wider alle Erwartung (und leider auch nur vorerst) eine Verurteilung der Täter bewirkte. Der Fall erweckte internationale Aufmerksamkeit und Mai erhielt eine Entschädigungszahlung (wohlgemerkt nicht von den Tätern sondern vom Staat), mit der sie die Mukhtar-Mai-Stiftung gründete und u.a. in ihrem Heimatdorf eine Schule eröffnete. Sie selbst war wie die meisten pakistanischen Mädchen von jeder Bildung ausgeschlossen, weshalb sie ihre Aussage statt mit einer Unterschrift mit ihrem Daumenabdruck, dem titelgebenden Thumbprint, bekräftigen musste. Eine Frau, die in einem gewalttätigen, patriarchalen System ihre eigene Stimme findet – für die US-amerikanische Komponistin Kamala Sankaram, Tochter eines indischen Vaters und einer weißen amerikanischen Mutter, ruft dieses Schicksal geradezu nach einer Oper und sie ist entschlossen, deren Möglichkeiten so wirkungsvoll wie möglich einzusetzen. Dafür genügt ihr ein erstaunlich überschaubares Instrumentarium, das lediglich aus Flöte, Violine, Viola, Kontrabass, Klavier und Schlagzeug besteht. Ergänzt wird es durch indisches Harmonium und Tabla und auch die Klangsprache ist stark von traditionellen, indisch-pakistanischen Einflüssen geprägt.
Nach einem kurzen Vorgriff – eine Gruppe Journalisten umringt die Protagonistin und fragt sie, woher sie ihren Mut und ihre Kraft nimmt – führt die Oper chronologisch durch das Geschehen, das das Publikum in Wuppertal hautnah erleben kann. Denn in der Inszenierung von Katharina Kastening sind die Zuschauerreihen direkt auf der Bühne auf zwei Seiten eines erhöhten Podestes platziert. Zum Greifen nah sehen wir Mukhtar, ihre Mutter und ihre Schwester, befasst mit häuslichen Tätigkeiten und im Gespräch über die Zukunftsaussichten der Mädchen, die nicht gerade rosig sind. Eine Frau ohne Mitgift kann keine Ansprüche stellen und darf froh sein, wenn ihr Ehemann – sei er auch alt und hässlich – sie nicht allzu schlecht behandelt. Aber trotz dieser trüben Perspektiven vermittelt der von einem indischen Raga inspirierte, die Stimmen miteinander verwebende Gesang Vertrautheit und Lebendigkeit. Doch schon bald bricht das Unheil in Gestalt des mächtigen Mastoi-Clans über sie herein, denn der Bruder soll sich einem weiblichen Clanmitglied unsittlich genähert haben und nur der Bußgang einer Angehörigen kann ihn retten. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Der monoton skandierte Ruf der Männer nach Ehre baut sich wie ein monolithischer Block auf und treibt die Frauen mit aggressiver Wucht in die Enge. Mukhtar ist bereit sich zu opfern, noch ohne zu wissen, was das konkret bedeutet. Als sie nach den Gesetzen der Tradition der Gewalt der Männer ausgeliefert wird, scheint die Zeit scheint still zu stehen, die Musik verstummt. Nur vernehmliches Atmen und Seufzen bleibt hörbar. Auf der bislang leeren Bühne wird ihre Überwältigung durch riesige Stofflianen versinnbildlicht, die sie umschlingen und fast zu ersticken drohen. Doch das Unglaubliche geschieht, nach anfänglicher Resignation, wagt Mukthar sich zu widersetzen, wird dabei von ihrer Familie unterstützt und sogar der Imam schlägt sich auf ihre Seite, so dass es tatsächlich zur Verurteilung der Täter kommt.
Kamala Sankaram will mit ihrer Oper und ihrer Musik aufrütteln und erschüttern. Gleich zu Beginn ziehen über einem minimalistischen Rhythmus sich aufbauende Klangschichten mit treibender Kraft ins Geschehen. Geschickt arbeitet sie mit Kontrasten, den eng verwobenen, Verbundenheit signalisierenden Stimmen der Familie steht die aggressive Wucht der Täter gegenüber, wiederholt greift sie auf traditionelle Musikformen zurück wie etwa den Qawwali, ein von rhythmischem Klatschen, Harmonium und Trommeln begleiteter ritueller Gesang der Sufis, wenn die Mutter (Koloratursopran Banu Schult) Mukthar mit bebender Stimme zu elegischen Streicherklängen zum Widerstand ermutigt, darf es auch ruhig pathetisch werden. In Wuppertal entsteht daraus ein stimmiges, mitreißendes Ganzes, die Sänger und Sängerinnen (Sharon Tadmor, Banu Schult, Oliver Weidinger, Merlin Wagner, Sergio Augusto und Nihal Azal), sind mit Herz, Seele und Stimmkraft bei der Sache. Die Regisseurin Katharina Kastening konzentriert sich daher ganz auf ihre Präsenz, die sie durch den Einsatz einer Handkamera, die uns die Personen durch Großprojektionen noch näher rücken lässt, unterstreicht. Im entscheidenden Moment dreht Mukhtar den Spieß um, indem sie dem Vergewaltiger die Kamera entreißt und ihn nun ihrerseits in die Enge treibt. Am Ende steht ein leidenschaftliches Plädoyer für Engagement und Optimismus: Aus dem Regentropfen soll eine Flut werden.
Während in der Oper somit die Gerechtigkeit siegt und Recht vor Gnade ergeht, zeigt sich das reale Leben leider widerspenstiger. Die zunächst ausgesprochenen Todesurteile wurden 2005 aufgehoben, fünf der sechs Hauptverantwortlichen wegen mangelnder Beweise freigesprochen, nur einer erhielt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe; ob und wie lange er diese verbüßt hat, konnte ich nicht herausfinden. Mukhtar Mai indessen ist Morddrohungen ausgesetzt und wurde zeitweilig wegen ihrer internationalen Aktivitäten von der pakistanischen Regierung unter Hausarrest gestellt, wovon sie sich bislang jedoch nicht einschüchtern ließ.
Drei neue Opern über Frauen – besonders die Parallelen zwischen American Mother und Thumbprint lassen sich nicht übersehen. Beide verhandeln eine reale, spektakuläre, moralisch aufgeladene Begebenheit, das Publikum soll direkt emotional erreicht werden (was in beiden Inszenierungen durch die räumliche Nähe zusätzlich betont wird), nicht kritische Distanz oder Reflektion sind das Ziel sondern Identifikation, die Rollen der Guten und Bösen sind klar verteilt. Der Musik kommt dabei eine unterstützende Funktion zu, sie soll mitreißen berühren, erschüttern – irritieren wenn überhaupt nur in engen Grenzen und soweit dies inhaltlich legitimiert ist (die Bösen dürfen schon mal ein bisschen knarzen). Dies steht dem Anspruch, den die Neue Musik vor sich hergetragen hat, natürlich diametral entgegen und so ist es nicht verwunderlich, das Bray und Sankaram der anglo-amerikanischen Musiksphäre angehören, die mit dem großen 'N' schon immer gefremdelt hat. Es passt aber auch in eine Zeit, in der das Publikum unmittelbar (also ohne Umweg über das Denken) angesprochen und 'abgeholt' werden soll.
Bei der vierten eingangs erwähnten Oper handelt es sich übrigens um Philippe Manourys Die Letzten Tage der Menschheit (Uraufführung am 27.6.), die ich mir allerdings erst später anschauen kann und deshalb in der nächsten Gazette besprechen werde.
[Neue Konzertreihe ritual in Köln]
„Rituale grenzen den Alltag vom Nichtalltag ab. Sie schaffen Platz für ein Eintauchen in Räume außerhalb der Routine und sind Orte der Gemeinschaft.“ Mit diesen Worten beschreibt Sophie Emilie Beha die Zielsetzung einer neuen, von ihr kuratierten Konzertreihe, die am 1.6. im Kölner Stadtgarten Premiere hatte. Beha ist Moderatorin, Kuratorin, Journalistin und Autorin und war 2022 die erste Programmgestalterin unter den NICA artists. Für die neue Reihe hat sie sechs sehr unterschiedliche künstlerische Positionen versammelt, die bis November am jeweils ersten Tag des Monats an verschiedenen Orten im und um den Stadtgarten zu erleben sind. Durch diese Terminierung werden die Konzerte selbst zu einer Art Ritual, wozu auch der gemeinsame Hörspaziergang beiträgt, der jeden Abend einleitet
Zum Auftakt war die Jazz- und Improvisationsmusikerin Luise Volkmann mit einem fünfköpfigen Ensemble (Thea Soti / Gesang und Electronics, Maria Reich / Viola, Philipp Zoubek / Präpariertes Klavier, Anil Eraslan / Cello) zu Gast. 'Rites de Passage' – wie ihr gleichnamiges Album – nennt sie ihre Klangerkundungen, eine „Musik des Widerstands und des Übergangs“. Zu Beginn zieht Thea Sotis Stimme ruhig ihre Bahnen und sorgt für einen warmen, melancholischen Einstieg. Dann entfaltet die Musik immer mehr Eigenleben und wird selbst zur Sprache, während die Stimme – teils elektronisch verfremdet – instrumental eingesetzt wird. Brodelnde, von kurzen Spitzen zerfurchte Strukturen, ein Sopransolo über rhythmischem Grund, mal diffus-schwebende, mal dichte, energetische und geräuschhafte Passagen wechseln einander ab und loten das ganze, aus der zeitgenössischen Musik bekannte Spektrum aus. Volkmann nimmt uns mit auf eine abwechslungsreiche Klangreise, aber manchmal gehen mir die Übergänge zu schnell. Kaum hat man sich dem Sog der Musik überlassen, da wird bereits das nächste Stück anmoderiert. Doch um – wie von der Kuratorin angedacht – Räume außerhalb der Routine des Alltags zu öffnen, wäre es gerade wichtig innezuhalten und zu insistieren.
Man darf gespannt sein, welche Zugänge die kommenden Konzerte eröffnen. Wojtek Blecharz kündigt für den 1.8. individuelle Klangmassagen an und Maria de Alvear, eine Meisterin des Rituals, steuert am 1.9. eine Uraufführung bei.
[Termine im Juli]
Köln
Vom 8. bis 11.7. befasst sich soundtrack cologne mit Musik und Ton in Film, Games und Medien. Parallel dazu werden in der Reihe see the sound vom 9. bis 13.7. außergewöhnliche Musikfilme gezeigt (z. B. am 10.7. Mika Kaurismäkis Dokumentation über die Monheim Triennale).
In der Kunststation Sankt Peter finden vor der Sommerpause noch zwei Lunchkonzerte am 5. und 12.7. statt und die Montage im Stadtgarten sind für NICA artists reserviert (am 7.7. hilde, am 14.7. Jonas Engel, am 21.7. Theresia Philipp und am 28.7. Headless Society). Am 1.7. wird die Reihe ritual mit einer Komposition von Florian Rynkowski fortgesetzt, im Konzertraum 674 FM erwartet uns am 2.7 das Trio tri:angel, beim Chamber Remix am 4.7. begegnen sich Maren Lueg und Albrecht Maurer, das Ensemble hand werk ist am 5.7. in der Alten Feuerwache zu Gast und ebenfalls am 5.7. veranstaltet die reiheM im Loft das 4. Internationale Kölner LiveLooping Festival. Im Loft finden fast täglich interessante Konzerte statt (so zum Beispiel am 6.7. mit dem auf zeitgenössische Musik spezialisierten A-Trio), am 11.7. setzt Impakt eine Reihe mit Improvisationskonzerten fort, am 12.7. bringt die Musikfabrik beim WDR neue Werke von Arnulf Herrmann und Georg Friedrich Haas zur Uraufführung, ebenfalls am 12.7. gestalten Lydia Balz und Alexis Ludwig in der Kulturkirche Sankt Gertrud ein auditives Experiment und am 13.7. kommt beim Sinfonischen Kehraus in der Philharmonie bei freiem Eintritt u.a. auch Lachenmanns Tanzsuite mit Deutschlandlied zu Gehör. In der Hochschule für Musik und Tanz stehen am 4.7. Kompass #7, ein offener experimenteller Raum für alle Kompositionsstudierenden, und am 16.7. das Abschlusskonzert Komposition von Ahmetcan Gökçeer und Simon Bahr auf dem Programm und vom 25. bis 27.7. verbindet die Konzertinstallation Book of hours and landscapes zwei außergewöhnliche Räume des Architekten Peter Zumthor: das Kunstmuseum des Erzbistums Köln Kolumba und die Bruder-Klaus-Kapelle in Wachendorf in der Eifel.
Einblicke in die freie Szene bekommt man bei ON Cologne und Noies, der Zeitung für neue und experimentelle Musik in NRW, jeden 2. und 4. Dienstag im Monat sendet FUNKT ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln, jeden 1. und 3. Mittwoch im Monat wird der Ebertplatz von der Reihe Bruitkasten bespielt und am letzten Mittwoch im Monat erwartet uns die Soirée Sonique im LTK4, wo am 31.7. auch das Centre Cour Festival beginnt. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln und impakt, sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.
Ruhrgebiet
Der Kulturraum Melanchthonkirche in Bochum kündigt ein sommerliches Konzert am 6.7. und Grenzgänge an der Orgel am 27.7. an.
Das Duo Hauser – Pauß ist am 6.7. mit Flöte und Live-Elektronik in der Kulturkirche Liebfrauen in Duisburg zu erleben und im Lokal Harmonie stehen hilde am 6.7. und der Kontrabassist Christian Hinz am 9.7. auf der Bühne.
Vom 30.6. bis 5.7. 2025 lädt die Folkwang Universität der Künste in Essen zur Folkwang Woche Neue Musik ein. Nach dem Eröffnungskonzert mit dem Trio Abstrakt präsentieren bis zum 5.7. Studierende und Lehrende ein vielfältiges Programm; u.a. stellen Fanny Herbst und Jiaying He ihre Abschlussarbeiten vor. In der Philharmonie kommen am 3. und 4.7. Werke von Michael Pisaro, John Psathas, Charles Ives und B.A.Zimmermann zur Aufführung, die Gesellschaft für Neue Musik Ruhr lädt am 7.7. zur freien Improvisation (FRIM) und das Ensemble S201 trifft am 19.7. auf Freunde.
Das Makroscope in Mülheim an der Ruhr verabschiedet sich am 5.7. mit schoco mune, Fred Marty, Ach Kuhzunft und Salome Amend in die Sommerpause.
Düsseldorf
Im Rahmen der Ausstellung Die Grosse im Kunstpalast inszeniert das Ensemble Oper, Skepsis und Gleisbau am 3.7. eine Klang-Aktion. Zwei sehr unterschiedliche Klangräume gibt es im Juli zu entdecken: Am 5.7. beschließt der Klangraum 61 sein diesjähriges Festival mit einem Konzert im Palais Wittgenstein und vom 15. bis 20.7. sowie vom 29.7. bis 3.8. organisiert Antoine Beuger den Wandelweiser-Klangraum in der Jazzschmiede. Die Woche dazwischen gestaltet André O. Möller mit einem eigenen Programm.
Sonstwo
Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik kündigt aktuellen Jazz mit dem Philipp Brämswig Trio am 5.7. an.
Die Bielefelder Cooperativa Neue Musik veranstaltet monatlich einen Jour fixe und die Zionskirche verabschiedet sich am 6.7. mit einem Orgelkonzert in die Sommerpause.
Die Klanginstallationen coin-cidence / humming von Nika Schmitt und Raul Keller in der gkg Bonn sind noch bis zum 27.7. zugänglich.
Das Theater Hagen lädt am 6.7. zu einem Musiktheaterexperiment mit Texten von Franz Kafka in das Wasserschloss Werdringen und am 8.7. erklingt in der Stadthalle im Rahmen des 10. Sinfoniekonzerts Let me tell you von Hans Abrahamsen.
Vom 26.7. bis 3.8. werden in Kürten die Stockhausenkurse veranstaltet, die wie üblich von Konzerten begleitet werden (Eintritt frei).
Vom 2. bis 6.7. findet die Monheim Triennale statt, die alle aktuellen Strömungen auf Augenhöhe versammeln möchte. Unter den Signature Artists, die Reiner Michalke an den Rhein gelockt hat, finden sich Heiner Goebbels, Peter Evans, Terre Thaemlitz, Rojin Sharafi u.v.a.
Am 2.7. stellt sich die Schlagzeugklasser der Musikhochschule Münster mit Werken von John Cage, David Friedman, Elliott Carter u.a. vor.
Das Studio für Neue Musik der Universität Siegen kündigt ebenfalls einen Schlagzeugabend am 16.7. an.
Am 4.7. sind Musiker und Musikerinnen der Wuppertaler Improvisationsszene unter dem Motto 'Nichts als Treibholz' im Visiodrom zu Gast und am 5.7. belebt Thomas Taxus Beck den Skulpturenpark Waldfrieden mit selbstspielenden Nistkästen.
Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.
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