Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Juni 2020

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[Klangkunstausstellung in Marl und vorsichtiger Ausblick auf den Monat Juni]

 

Langsam erwacht das kulturelle Leben aus der Coronaschockstarre. Während seit kurzem wieder in kleinem Rahmen erste Konzertveranstaltungen stattfinden, sind die Museen bereits seit Anfang Mai am Start und auch hier gibt es nicht nur etwas zu sehen sondern auch zu hören. Zum Beispiel im Glaskasten Marl, der zwar offiziell als Skulpturenmuseum firmiert, aber sich auch in den Bereichen Medien- und Klangkunst einen Namen gemacht hat. Aktuell ist dort die Ausstellung sound + space mit Klangkunst von Pierre-Laurent Cassière und Johannes S. Sistermanns zu erleben, die mit der ursprünglich geplanten Laufzeit vom 22.3. bis 19.4. gänzlich dem Lockdown zum Opfer gefallen wäre, glücklicherweise aber bis zum 22.7. verlängert wird.

Die beiden Künstler bespielen das gesamte Untergeschoss, wobei Sistermanns besonders weit ausgreift, indem er die verwinkelten Räume mit langen Bahnen aus transparenter Folie durch- und umspannt. Im großen Eingangsraum in geheimnisvolles blaues Licht getaucht wirken sie wie riesenlange gespannte Saiten und tatsächlich bringt Sistermanns sie durch Klänge, die mit Hilfe von Sensoren und Schallerregern (Exciter) übertragen werden, zum Klingen. Auch andere Materialien – Holz, Dämmplatten, Eisen, ja sogar die Fensterscheiben – werden auf diese Weise beschallt, so dass sich ein komplexer Hörraum entfaltet, in dem hohe flirrende Töne und zartes Summen hin und wieder durch harsche Geräuscheinbrüche aufgeschreckt werden. Neben intensivem Licht bringt Sistermanns auch Videoprojektionen zum Einsatz. So entsteht ein labyrinthischer Parcours, in dem Grenzen verwischen, Wahrnehmungen entkoppeln und Eindeutigkeiten entgleiten. Am Ende des Rundgangs kann der Besucher selbst aktiv werden, indem er eine Klangschale über elektrifizierte Saiten tanzen lässt, eine simple Versuchsanordnung, die im Gegensatz zu manch interaktivem Schnickschnack tatsächlich Spaß macht.

Pierre-Laurent Cassière zieht sich stattdessen mit drei sehr unterschiedlichen Arbeiten in separate Räume zurück, wo er angeregt durch verschiedenste Bereiche wie Musikwissenschaft, Architektur, Physik und Physiologie mit den Grenzen und Paradoxien der Wahrnehmung spielt. Im Mittelpunkt der Videoinstallation Tacet steht eine Stimmgabel, doch wie der Titel bereits vermuten lässt, gibt es nichts zu hören. Stattdessen beobachten wir in Großaufnahme, ausschnitthaft und aus verschiedenen Perspektiven wie das Metall langsam in Schwingung gerät während gleichzeitig die schwarzen Sitzgelegenheiten zu pulsieren beginnen. Das normalerweise akustische Erlebnis wandelt sich in ein visuelles und haptisches, abstrakt – mal erscheint nur ein scheinbar im Nichts vibrierendes weißes Rechteck – und konkret-sinnlich zugleich. Als Besucher gerät man in einen alle Sinne umfassenden Sog, doch kaum hat man sich dem Geschehen hingegeben, sorgt ein beherzter Zugriff für ein abruptes Ende und bringt einen zurück auf den Boden der Tatsachen. In Sine bewegt sich ein lose flatterndes Videoband in einem Luftstrom, wobei sein Schatten ein filigranes zweidimensionales Linienspiel auf die Wand zeichnet. Es entstehen luftige Zeichnungen, doch dieses zarte Gekräusel wird von einem intensiven, geräuschhaften, knarzenden Soundtrack kontrapunktiert, der auf den verstärkten Vibrationen des Tapes basiert. In Pulse schließlich werden die Bewegungen einer Crooke'schen Lichtmühle auf den Ausstellungsraum übertragen, dessen Wände synchron pulsieren. Den besonderen Reiz der Arbeiten machen das Spiel mit Kontrasten, die Schlichtheit der Grundidee und das Ineinander der verschiedenen Wahrnehmungsmodi aus.

Marl ist sicher nicht der Nabel von NRW, aber reduzierte Kulturangebote und geplatzte Urlaubsträume machen auch wenig ausgetretene Pfade interessant. Dabei hat Marl neben seinem eigenwilligen Architekturkomplex aus den 50er Jahren und dem Skulpturenmuseum mehr als 50 Skulpturen im öffentlichen Raum rund um den City-See zu bieten, die sich bei schönem Wetter anhand einer detaillierten Broschüre erkunden lassen.

 

Auch Konzertveranstaltungen mit Publikum sind unter Beachtung spezieller Hygienevorschriften wieder möglich – Sänger und Sängerinnen zum Beispiel müssen einen Abstand von 3 m sowie 6 m in Ausstoßrichtung wahren! Im Moment ist einiges in Bewegung, es empfiehlt sich daher bei allen hier genannten Hinweisen, sich vorab nach der konkreten Lage vor Ort zu erkundigen.

 

Die Kölner Kunststation Sankt Peter hat bereits im Mai ihre Lunchkonzerte wieder aufgenommen und kündigt weitere für den 6., 13. und 20.6. sowie Orgelimprovisationen am 7.6. an. In den großen Konzerthäuser wurden die meisten Veranstaltungen der laufenden Spielzeit abgesagt oder verschoben, aber es regt sich neues Leben. Im Programm der Kölner Philharmonie zum Beispiel versteckt sich ein noch nicht abgesagtes Konzert mit dem Signum Quartett und einer Uraufführung von York Höller am 10.6.. Die Musikfabrik fährt weiterhin – wie es so schön heißt – auf Sicht, geht aber davon aus, dass im Juni vermutlich noch keine Livekonzerte stattfinden werden, und präsentiert stattdessen jeden Montag eine Aufnahme ihres Onlinelabels. Einige Veranstalter sind noch im Livestream-Modus, wie zum Beispiel das Loft, was sich natürlich jederzeit ändern kann. Bestens in die Zeit passt das 2007 gegründete Avatar Orchestra Metaverse (AOM), eines der ersten Ensembles für experimentelle Musik, dessen Auftritte fast ausschließlich in der virtuellen 3D Umgebung Second Life stattfinden und das man ebendort am 4.6. im Rahmen der Reihe soundings der Kunsthochschule für Medien bestaunen kann.

 

4 Tage Super Livestream bietet vom 29.5. bis 1.6. das Moers Festival. Die Musiker sind vor Ort und werden von Arte concert live gefilmt und in Echtzeit gestreamt. Aufgrund der Reisebeschränkungen gibt es zwar einige Absagen, aber es bleibt trotzdem genug zu entdecken, zum Beispiel den Düsseldorfer Komponisten und Performer André O. Möller, der sich mit just intonation befasst.

 

Ebenfalls im Livestream ist am 1.6. das erste Werkstattkonzert im Mönchengladbacher Kulturzentrum Bis zu erleben.

 

Bei folgenden Ankündigungen könnte es sich um Liveveranstaltungen handeln und sicher kommen in den nächsten Wochen noch einige hinzu. Also Augen und Ohren auf!

 

Die Aachener Klangbrücke kündigt die Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' am 5.6., das Trio Abstrakt am 6.6. und aktuellen Jazz am 20.6. an.

 

Die Bielefelder cooperativa neue musik plant am 6.6. ein Konzert mit dem Cooperativa Ensemble.

 

Der Bonner Wortklangraum hat am 3.6. das E-Mex-Ensemble zu Gast und im Frauenmuseum präsentiert die Gedok am 7.6. töchter aus elysium: jetzt.

 

Auf der Bühne der Black Box in Münster werden The Funny Side of Discreet am 7.6. und Emißatett & Xavier Charles am 21.6. erwartet.

 

Das Studio für Neue Musik der Universität Siegen bittet am 21.6. zum Open Space in die Martinikirche mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Keiko Harada, Martin Herchenröder, Daniel Pinkham und Oliver Schneller.

 

Partita Radicale gestaltet am 6.6. in der Wuppertaler Färberei im Rahmen des Engels-Jahres ein musikalisches Seismogramm eines Wuppertaler Quartiers.

 

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