Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe März 2020

Gewesen: Zeitinsel Kurtág in Dortmund – Gürzenich-Orchester mit Beethoven und Uraufführungen

Angekündigt: Neue Musik im BaseCamp und beim Beethovenfest in Bonn – Musik der Zeit beim WDR – Kagel im Bonner Frauenmuseum u.v.a.m.

 

(möchten Sie diese Gazette monatlich neu per E-Mail erhalten? Dann senden Sie bitte eine Mail an neuemusik-join@list.kulturserver-nrw.de )

 

[Zeitinsel Kurtág in Dortmund]

 

Bereits in den vergangenen Jahren widmete sich das Konzerthaus Dortmund in sogenannten Zeitinseln ausgewählten Komponisten und Interpreten, aber das diesmalige Unterfangen war etwas Außergewöhnliches. Mit György Kurtág stand ein noch lebender Komponist im Blickfeld, der selbst in der an eigenwilligen Persönlichkeiten nicht eben armen zeitgenössischen Musiklandschaft besonders ist – was sich sowohl in der Begegnung mit seiner Musik als auch seiner Person zeigt. Seine Werke sind oft fragmentarisch, schlicht, reduziert und gleichzeitig elaboriert, anspielungsreich und tiefgründig. Wenn er händchenhaltend mit seiner Frau Márta, mit der er bis zu ihrem Tod im Oktober letzten Jahres über 70 Jahre verheiratet war, am Klavier saß, wirkten die beiden anrührend und nah und gleichzeitig wie aus einer anderen Welt, zu der außer ihnen keiner Zugang hat. Kontakt zur Außenwelt nahm bzw. nimmt Kurtág offensichtlich vor allem über seine Frau und über seine Musik auf, was in vielfältigen Widmungen, Hommagen und Zuschreibungen zum Ausdruck kommt. Da er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr reist, kam der Dortmunder Intendant Raphael von Hoensbroech kurzerhand zu ihm nach Budapest begleitet von Benjamin Appl und einem Kamerateam. Der junge Bariton war von Kurtág ausgewählt worden, um mit ihm die Hölderlin-Gesänge einzustudieren, ein Prozess an dem das Dortmunder Publikum im Rahmen eines Gesprächskonzertes und anhand der mitgebrachten Filmsequenzen hautnah Anteil nehmen konnte. Kurtág gilt als ausgesprochen streng und skrupulös, meist weiß er genau, was er will, und wenn nötig, wird an wenigen Takten oder einem bestimmten Ausdruck stundenlang gefeilt, aber auch ein fragender Blick zu Márta oder ein entwaffnendes 'ehrlich gesagt, ich weiß es nicht' ist möglich. Überhaupt räumt Appl ein, dass der in der Probensituation endlich gefundene perfekte Moment in seiner Einzigartigkeit letztlich nicht reproduzierbar ist, so dass es mehr auf die Vermittlung einer Haltung als auf äußerliche Präzision ankommt. Diese Haltung war bei der zweimaligen Darbietung der Hölderlin-Gesänge eindrucksvoll spürbar. Appl ist dabei weitgehend auf sich gestellt, unbegleitet bis auf einen kurzen Einsatz von Posaune und Tuba im dritten Gesang, mäandernd den 'Linien des Lebens' folgend oder gehetzt, stockend, fast erstickt, 'in äußerster Wut und Verzweiflung' jenes 'Pallaksch, Pallaksch' hervorstoßend, mit dem der alternde Hölderlin auf unliebsame Besucher reagiert haben soll. Zur Uraufführung überließ Kurtág Appl zwei weitere, bereits 1996 komponierte Hölderlinlieder, die von Lebensüberdruss („Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gern“) und dem Verlust der Verständigungsmöglichkeiten handeln und angesichts des Todes seiner Frau eine besondere persönliche Tragik mit sich führen.

Eine ganz andere Art der Vermittlung wählten die Sopranistin Caroline Melzer und die Geigerin Nurit Stark, deren Interpretation der Kafka-Fragmente von einer Videoinstallation begleitet wurde. Isabel Robson und Susanne Vincenz hatten sich hierfür per Eisenbahn mit den Musikerinnen von Berlin nach Kaliningrad auf eine Reise begeben, die sich im doppelten Sinne als Zeitreise erweist: einerseits zu Kafka und seinen schonungslosen Gedankenfetzen („Im Kampf zwischen dir und der Welt, sekundiere der Welt“), andererseits zu einem von überwucherten Gleisen und real sozialistischen Speisegaststätten geprägten, fremdartig-vertrauten untergehenden Kosmos. Kurtág benötigt eigentlich keine Visualisierung, aber die gleichzeitig beiläufige und von genauer Beobachtungsgabe zeugende Bildsprache fügt sich unaufdringlich ein und unterstreicht die von feiner Ironie und unerbittlicher Selbstanalyse durchdrungene kafkaeske Grundstimmung.

In besonderer Weise zeigte sich die Stärke und Präsenz der Kurtágschen Musik in der Happy Hour des WDR Sinfonieorchesters, einem Appetizer für das nicht so konzerthausaffine Publikum mit Freigetränk und launig-überdrehter Moderation, bei dem zudem noch Dan Dedius filmreifes Orchesterwerk Levante zu Gehör kam. Doch dieses scheinbar kontraproduktive Umfeld konnte Kurtágs Grabstein für Stephan und Stele nicht das Geringste anhaben, beides Gedenkwerke (eines für Stephan Stein, den Ehemann der für Kurtág lebensprägenden Psychologin Marianne Stein, das andere für den Dirigenten und Komponisten András Mihály), vor allem letzteres aufgewühlt und aufwühlend, hochexpressiv ohne in Pathos abzudriften. Mit dem Arditti Quartet, das Kurtágs Streichquartettschaffen von seinem Opus 1 aus dem Jahre 1959 bis zu seinen Six moments musicaux aus dem Jahre 2005 beleuchtete, und Pierre-Laurent Aimard, der Auszüge aus Játékok mit Bach kombinierte, vervollständigten ausgewiesene Kurtágexperten die Zeitinsel. So kann es in Dortmund weitergehen und das wird es auch, denn für 2021 ist die deutsche Erstaufführung von Kurtágs einziger Oper Fin de Partie (Endspiel) nach Samuel Beckett angekündigt. Diese war bereits für 2019 vorgesehen, musste jedoch aufgrund eines von der Mailänder Scala geltend gemachten Exklusivitätsanspruchs verschoben werden.

 

[Gürzenich-Orchester mit Beethoven und Uraufführungen]

 

Das Beethovenjubiläum hat sich natürlich auch François-Xavier Roth mit seinem Gürzenich-Orchester nicht entgehen lassen: Angeregt von Beethovens in Wien veranstalteten Akademie-Konzerten rief er gemeinsam mit Pierre-Laurent Aimard eine neue Akademie aus, die sich 'allein Freyheit' zur Richtschnur wählte. Dabei hatten die Zuhörer gleich zwei Irritationen zu gewärtigen: Neben und zwischen den vertrauten Tönen des Jubilars erklangen zeitgenössische Klänge, darunter auch zwei speziell für diesen Kontext entstandene neue Werke von Isabel Mundry und Francesco Filidei, und damit nicht genug wurde vorab kein Programm ausgehändigt, so dass das Publikum sich ohne Reling und Kursbuch den teils hoch aufschäumenden musikalischen Turbulenzen ausgesetzt sah. Normalerweise bin ich keine Freundin des 'wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen', für Beethovenenthusiasten kam zudem erschwerend hinzu, dass die gespielten Symphonien (Nr. 1, 4, 5, 7), Klavierkonzerte (Nr. 5.) und Klaviersonaten nur in einzelnen Sätzen, also quasi häppchenweise, zu Gehör kamen bis hin zu dem unglaublichen Sakrileg, dass die berühmt-berüchtigte, von allen Musikpäpsten heiliggesprochene Klaviersonate Nr. 32, op. 111 mittendrin abbrach. Doch trotzdem entstand daraus für mich ein stimmiges Konzept und ein genussvoller Konzertbesuch. Den Auftakt machte die Mondscheinsonate, die zunächst aus dem Off erklang, von Aimard auf der Bühne aufgenommen und von Paulo Alvares von der Seite sekundiert wurde. Die zwischen den Klavieren pendelnden vertrauten Töne wurden von einem diffusen Rascheln und Rauschen des Orchesters umspült, was sich anhand des nachträglich dann doch ausgehändigten Programmzettels als Isabel Mundrys erstes Orchesterfragment zu Beethoven entpuppte. Von diesen Fragmenten folgten noch vier weitere, die sich auf subtile Weise, meist zurückhaltend, gelegentlich grell aufblitzend, in jedem Fall sehr präsent, zwischen den Beethovenschen Solitären ausbreiteten und für stimmige Übergänge sorgten. Im Gegensatz dazu ging Francesco Filidei mit Quasi una bagatella frontal ans Werk, setzte an zur wilden Jagd, wüst und kauzig, mit lädierten Beethovenanklängen, die ordentlich durch den Wolf gedreht wurden. Bei beiden Uraufführungen stellte sich mir allerdings die Frage, ob und wie sie außerhalb des hier präsentierten Konzepts bestehen können, eine Frage, die sich bei den anderen beiden zeitgenössischen Werken erübrigt. Sowohl Helmut Lachenmanns Tableau für Orchester als auch Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis stehen für sich und besonders letzteres entfaltet mit seinen bedrohlich anschwellenden Orgelkaskaden und apokalyptischen Orchestertutti eine existentielle Wucht, die sich hinter Beethoven nicht zu verstecken braucht. Das Gürzenich-Orchester war mit viel Herzblut und Energie bei der Sache und machte fast dem draußen aufziehenden Orkan Sabine Konkurrenz.

 

[Termine im März]

 

Köln

 

In der Philharmonie stehen Werke von Jörg Widmann am 2.3., von Wojciech Kilar am 6.3. und 7.3., von Vito Žuraj am 22.3. sowie Konzerte mit Magnus Holmander und David Huang am 8.3. und dem Arditti Quartet am 23.3. auf dem Programm. Die Alte Feuerwache kündigt Reviving the Tradition mit elektroakustischer Musik am 7.3., In Between Spaces, eine Kollaboration zwischen Musikern aus Europa und Afrika, vom 19. bis 22.3., das Ensemble Fake Music Association mit einer transdisziplinären Stimm-Sprach-Klang-Performance am 25. und 26.3. sowie das Musiktheater Jeder:Jederzeit vom 26. bis 29.3. an. Die Musikfabrik lädt am 2.3., am 9.3. und am 30.3. zum Montagskonzert in ihr Studio und in der Kunststation Sankt Peter erwarten uns neben den Märzimprovisationen am 1.3. und den Lunchkonzerten am 7., 14., 21. und 28.3. Saties Vexations im Rahmen der Langen Nacht der Kirchen am 13.3. sowie der Experimentalfilm Vulkaneifel musikalisch begleitet von Akiko Ahrendt am 20.3. Am 12. und 24.3. gibt es Neues von der Plattform nicht dokumentierbarer Ereignisse, am 25.3. findet die nächste Soirée Sonique statt, in der Konzertreihe nomádes kommt am 28.3. in der japanisch-deutschen Kulturwerkstatt Tenri elektroakustische Musik zur Aufführung und beim nächsten 'Musik der Zeit'-Konzert des WDR am 29.3. wird ein neues Werk von York Höller aus der Taufe gehoben. ZAMUS experimentiert vom 21. bis 29.3. beim Fest für alte Musik unter dem Motto Early Music: Reload mit ungewöhnlichen Konzertformaten und lässt brandneue Auftragskompositionen auf Alte Musik treffen.

Fast tägliche Events sind im Loft zu erleben (z.B. am 26.3. Kompositionen von Tom Johnson, Georg Katzer und Ralf Hoyer), weitere Termine finden sich bei kgnm und Musik in Köln und Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Die Bochumer Symphoniker spielen Galina Ustvolskayas Poem Nr. 2 für Orchester – am 15.3. in Bochum und bereits am 14.3. in der Festhalle Viersen.

 

Das Dortmunder Depot präsentiert am 7.3. Visual Sound, eine phantastisch humorvolle Licht-Schatten-Klangperformance mit dem Theater Parzelle. Das domicil kündigt Frank Niehusmanns elektroakustisches Musiktheater [...alles gut...] am 1.3., das Ensemble Consord am 12.3. und The Dorf am 19.3. an und im Konzerthaus steht Raminta Šerkšnytes De Profundis für Streichorchester am 21.3. und ein Orgelkonzert mit Vincent Dubois am 26.3. auf dem Programm.

 

Im 7. Kammerkonzert der Duisburger Philharmoniker am 15.3. sind das delian::quartett und Measha Brueggergosman mit Werken von Aribert Reimann und Francesco Filidei zu hören und im 8. Philharmonischen Konzert am 25. und 26.3. erklingt Anthology of Fantastic Zoology von Mason Bates.

 

Die Musikfabrik kommt am 29.3. wieder nach Essen in den PACT Zollverein.

 

Düsseldorf

 

Vom 6. bis 8.3. findet das TIN-Festival für improvisierte Vokalmusik statt. Dabei erwartet uns am 7.3. die Uraufführung eines Werkes von Markus Stockhausen, der als Schirmherr fungiert. Das Notabu-Ensemble richtet am 6.3. in der Tonhalle die Ohren auf Island und beim nächsten Salon Neue Musik im Klangraum 61 spielt und erläutert Martin Tchiba am 28.3. seine komponierten Konzertprogramme für Klavier.

 

Sonstwo

 

Auf Einladung von Soundtrips NRW trifft die japanische Musikerin Rieko Okuda vom 26.2. bis 4.3. in Wuppertal, Köln, Duisburg, Köln, Münster, Essen, Düsseldorf und Bielefeld auf wechselnde Gäste. Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

 

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik präsentiert am 6.3. aktuellen Jazz mit dem Mathias Haus Quartett und widmet sich am 13.3. in der Reihe 'Hören und Sprechen über Neue Musik' der finnischen Komponistin Kaija Saariaho.

 

Beim nächsten Jour fixe der Bielefelder cooperativa neue musik am 2.3. begibt sich Chris Jones auf eine hauntologische Reise (mit Drähten), in der Zionskirche erwarten uns ein Orgelkonzert mit Musik von John Cage, Earle Brown und Philip Glass am 15.3. und ein Cellokonzert mit Werken von György Ligeti und Giya Kancheli am 22.3. und im kleinen Saal der Rudolf-Oetker-Halle gastiert am 23.3. das Ensemble Horizonte mit mythischen Momenten.

 

Im Bonner Dialograum Kreuzung an Sankt Helena stehen am 1.3. eine Klangperformance und am 4.3. der Wortklangraum mit einem Konzert für Bratschen und Rezitation auf dem Programm. Ebenfalls am 4.3. präsentiert die In Situ Art Society in der St. Josef Kirche das Heiner Rennebaum Doppelquartett. Am 7.3. ist das Beethoven Orchester bereits zum dritten Mal an einem ungewöhnlichen Ort, nämlich im Bonner BaseCamp, zu erleben und auch das Beethovenfest hat in seiner Frühjahrssaison Zeitgenössisches zu bieten. Zu Gehör kommen Werke von Hugues Dufourt am 13.3., von Salvatore Sciarrino am 14.3., von Enno Poppe am 17.3., von Bernhard Lang am 20.3. und von Vladimir Tarnopolski am 22.3. Im Frauenmuseum findet am 15.3. ein GEDOK-Konzert mit einer Collage über Ludwig van Beethoven und Mauricio Kagel statt und am 31.3. kommt Christina Cordelia Messners Requiem ohn warum in der Namen Jesu Kirche zur Uraufführung (Folgeaufführung am 1.4. in der Kunststation Sankt Peter in Köln).

 

Die Detmolder Klangwerkstatt kündigt am 6.3. den Mythos Notre Dame mit dem Vokalensemble der Martin-Luther-Kirche und dem Ensemble Horizonte und am 25.3. Der Vogel als Prophet mit Musik u.a. von Messiaen, Schumann, Fukushima, Vasks, Mabarak und Murail an.

 

Im Krefelder TAM kann man jeweils freitags auditive Poesie von Gerhard Rühm erleben.

 

In der Black Box in Münster erwarten uns neben den Soundtrips NRW mit Rieko Okuda am 1.3. Konzerte mit Jazz und improvisierter Musik und im Theater finden im März weitere Aufführungen der Oper Der Untergang des Hauses Usher von Philip Glass statt.

 

Irene Kurka stellt am 22.3. in Orsoy am Niederrhein ihr Programm zu Hildegard von Bingen und John Cage vor.

 

Der Wuppertaler ort kündigt den cine:ort am 5.3. und ein Konzert mit dem Duo Flux am 28.3. an und unter dem Dach der Sophienkirche ist am 21.3. Phobos XI, das Dark Ambient Festival mit Atomine Elektrine, Nam-Khar, Aidan Baker und Ex.Order zu erleben.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW