Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe November 2020
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Gewesen: Nachschlag Wittener Tage für neue Kammermusik
Als im April die Wittener Tage für neue Kammermusik in ihrer gewohnten Form dem Lockdown zum Opfer fielen, entschied sich der WDR für eine radiophone Version – ein Experiment, das allgemein positiv aufgenommen wurde (s.a. Gazette Mai 2020). Dabei war allen Beteiligten klar, dass es sich nur um eine Notlösung handeln konnte, und so war es folgerichtig und erfreulich, dass jetzt im Oktober in Witten und Köln mehrere Werke unter zwar immer noch eingeschränkten, jedoch realen Bedingungen präsentiert wurden und damit ihre wahre Uraufführung erlebten. Was wir eigentlich schon immer wussten, hat sich dabei noch einmal eindrucksvoll bestätigt: Musik braucht, um sich zu entfalten und mit allen Sinnen wahrgenommen zu werden, den realen Raum, die Anwesenheit der Musiker und Zuhörer, Kontakt, Atmosphäre und Präsenz. Am meisten gilt dies natürlich für Klanginstallationen, die davon leben, dass die Besucher sie sich wandelnd erschließen. Christina Kubisch spannte hierfür in sechs Räumen des Märkischen Museums in Witten einen Kupferhimmel auf: In den ansonsten leeren Räumen zogen sich Kupferkabel von Wand zu Wand, unter denen man mit speziellen elektromagnetischen Kopfhörern flanieren und dabei die in den Kabeln zirkulierenden Klänge empfangen konnte. Von Raum zu Raum offenbarten sich dabei neue Klanglandschaften, die alle einen Bezug zum Thema Kupfer aufweisen: Field Recordings von Orten der Kupfergewinnung in Südafrika, hörbar gemachte elektromagnetische Felder, Klänge von Synthesizern und Orchesterinstrumenten, deren Leiterplatten bzw. Klangkörper Kupfer enthalten. Kubisch kommt es dabei nach eigener Aussage auf die Ambivalenz des Themas an, denn Kupfer, neben Gold das einzige Metall, das in der Natur in reiner Form vorkommt, steht zwar für Schönheit, Reinheit, Korrosionsbeständigkeit und Leitfähigkeit, hinterlässt bei seinem Abbau jedoch gigantische Umweltschäden. Beim Wandeln durch die steril-weißen Räumlichkeiten gerät dieser kritische Aspekt jedoch leicht in den Hintergrund, es dominiert das kulinarische Klangerlebnis, bei dem man sich seine eigene Symphonie kreieren, sich wahlweise einem Froschkonzert oder anderen Naturgeräuschen, musikalischen Klängen oder dem Rattern und Knarzen der uns umgebenden, sonst unhörbaren elektrischen Wellen hingeben kann.
Auch in Martyna Poznanskas Installation Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real hat es die Ambivalenz schwer. Poznanska spielt mit der Dialektik von Innen und Außen, konkret dem geschützten Raum der Wittener Bibliothek und Field Recordings vorzugsweise aus dem Wald. Während man im Außenbereich unter Bäumen Gedichten lauschen kann (wenn es nicht gerade regnet), erklingen zwischen den Bücherregalen zaghafte Naturgeräusche. Doch was sich als Konzept ganz interessant anhört, bleibt in der Umsetzung blass. Etwas verloren geistert man durch die Auslagen und staunt, was in einer öffentlichen Bücherei dem geneigten Leser so alles geboten wird.
Mehrere Werke firmierten unter dem Oberbegriff Monochrom, so zwei neue Stücke von Justé Janulyté und Elnaz Seyedi jeweils für acht Trompeten, die in der Radioversion Marco Blauuw durch Mehrfachaufnahmen im Alleingang zu Gehör brachte. Ihr wahres Potential konnten sie jedoch erst durch das lebendige Zusammenspiel der acht Instrumentalisten entfalten. In Janulytés Unanime vereinigen sie sich zu einem endlos strömendem, orgelartigen, in Dichte, Lautstärke und Schärfe changierenden, immer dringlicheren Klangstrom. In Seyedis durch Kafkas Prometheusfragment inspiriertem Werk Felsen – Unerklärlich hingegen wird das Klanggeschehen durch mal zart flirrende, mal scharfkantige Akzente wie von Ritzungen oder Gravuren geprägt.
Aber nicht alle Stücke bestanden den Realitätstest. Carola Bauckholts Witten Vakuum, bei dem Johanna Vargas und Susanne Leitz-Lorey von den Neuen Vocalsolisten mit den Saugrohren eines Staubsaugers gurgelnde und schlürfende Geräusche erzeugen, kann auch nach mehrmaligem Hören nicht zünden, entpuppt sich auf musikalischer Ebene als reine Posse. Und auch wenn die Neue Musik etwas mehr Humor und Selbstironie durchaus vertragen könnte: Gordon Kampes unermüdliches, inzwischen jedoch ermüdendes Kokettieren mit seiner Begeisterung für Liebe, Kitsch und Schlager kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dann doch nichts anderes dabei herauskommt als ein beliebiges Sammelsurium mit aufgesetzten Gags – in I forgot to remember to forgot herbeizitiert von Nostalgie verströmenden Plattenspielern, aus denen Heintje und Rudi Carrell krächzen. Überhaupt darf man skeptisch sein, wenn ein Komponist sich viel auf seine extravagante Herangehensweise zu Gute hält und diese immer wieder ausführlich erläutert. Wie Benjamin Scheuer, der von eigenen Stimmimprovisationen ausgeht, diese aufnimmt, transkribiert, mit diversen Alltagsobjekten nachbildet und gemeinsam mit den Musikern durch mehrere Verarbeitungsschleifen laufen lässt. Das Ergebnis mit dem Titel Acht Arten zu atmen klingt wie die quäkende und schnatternde Tonspur zu einem völlig überdrehten Comicstreifen.
Bereits unter dem Einfluss der Coronapandemie entstand die Sonata No. 2 der 82-jährigen Gloria Coates, der ein intensiver Austausch über Skype mit der Interpretin der Uraufführung Carolin Widmann vorausging. Aus dem teils drängend-bedrückenden, teils zittrig-nervösen Klangstrom, perforiert durch karge perkussive Momente (Beklopfen des Korpus), versucht sich eine zaghafte Melodie zu schälen. Johannes Boris Borowski ließ sich für das von dem Akkordeonisten Teodoro Anzellotti aus der Taufe gehobenen Lied vom Bild einer Schneelandschaft inspirieren, die jedoch nur oberflächlich ruhig ist und unterschwellig von fiebrigem Flirren und nervösem Zucken aufgewühlt wird.
In ähnliche Assoziationsgefilde entführt Alberto Posadas großformatiges Werk Poética del camino, das sich aufgrund seiner Besetzung (sechs Stimmen und zehn Instrumentalisten) im April einer Realisierung widersetzte und nun am 11.10. im WDR-Funkhaus von den Neuen Vocalsolisten und dem ensemble recherche uraufgeführt wurde. Posada verbindet Auszüge aus Wilhelm Müllers Winterreise mit Texten der spanischen Dichter Jorge Manrique und Antonio Machado und begibt sich auf eine existentielle, aufwühlende Reise. Schon der Auftakt für Solo-Klarinette vermittelt mit brüchigen, tastenden Klängen ein Gefühl der Unbehaustheit. Dieses kleidet sich im zweiten Teil mit Müllers 'Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus' in Worte. Die Fremdheit kommt gleichzeitig in Trompetenklängen mit hohem Geräuschanteil zum Ausdruck, die teilweise unter Verwendung eines Saxophonmundstücks erzeugt werden. So geht es weiter. Im vierten Teil Die Hunde, die Ketten verflechten sich die Vokal- und Instrumentalstimmen zu einem dichten, orientierungslosen, fauchenden und knurrenden, erschreckten und verschreckenden Knäuel, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Noch schmerzhafter wirken die von frostigen Höhen und harschen Metallklängen bestimmten Passagen bevor das Werk mit den Worten '...ist alles zerflossen' resigniert zerrinnt. Für mich war Posadas Poética del camino der Höhepunkt der Witten-Nachlese, der mich 70 Minuten unter Spannung hielt und mich sogar den Mund-Nasen-Schutz vergessen ließ!
An dieser Stelle sollten eigentlich die Terminankündigungen für November stehen, die eindrucksvoll gezeigt hätten, wie viel schon wieder geplant war in der Szene. Wie wir alle wissen, ist es anders gekommen, die Konzerthallen bleiben einen weiteren Monat leer.
Vieles wird wieder ins Netz verlagert. Die Veranstaltung Play on Demand zum Thema 'Neue Musik – Neue Medien', die am 7.11. in der Düsseldorfer Stadtbibliothek stattfinden sollte, wird als Online-Version zu erleben sein. Aber der heimische Bildschirm kann die lebendige Begegnung nicht ersetzen.
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