Neue Musik in NRW - Ausgabe Februar 2024

Gewesen: Frakzionen in Bielefeld

Angekündigt: Festival Opening in Trier – Zeitinsel Arvo Pärt im Konzerthaus Dortmund – Noperas! in Gelsenkirchen u.v.a.m.

 

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[Frakzionen in Bielefeld]

 

Bereits zum 7. Mal fand vom 19. bis 21.1. das Frakzionen-Festival in Bielefeld statt. Wiederholt habe ich in dieser Gazette darauf hingewiesen, jetzt wollte ich es genauer wissen. Drohendem Bahnstreik und Winterkapriolen zum Trotz habe ich mich auf den Weg gemacht, um mir anzuschauen und vor allem anzuhören, was dort am Rande unseres schönen Bundeslandes regelmäßig zum Jahresbeginn vonstatten geht. Gründer, künstlerischer Leiter, Organisator und guter Geist des Festivals ist Christof Pülsch, der sich auf seiner Website ganz schlicht als Kirchenmusiker an der Zionskirche Bielefeld-Bethel vorstellt. In dieser Funktion hat er schon einiges bewirkt: Regelmäßig finden in der Zionskirche Konzerte mit zeitgenössischer Musik statt, in seiner Chorarbeit erkundet er gerne Pfade abseits des klassischen Repertoires und seit 2017 kulminiert all das einmal im Jahr in einem dreitägigen Festival, das sich wachsender Beliebtheit erfreut. Die Menschen, die dabei in der Zionskirche für volles Haus sorgen, sind nicht die üblichen Neue-Musik-Aficionados, die von Festival zu Festival pilgern, sondern stammen überwiegend aus Bielefeld und Umgebung und haben sich langsam an diese ungewöhnlichen Klänge herangetastet. Daraus ist eine sehr offene, familiäre Atmosphäre entstanden, man kennt sich, kommt schnell miteinander ins Gespräch, Gemeindemitglieder sorgen mit selbstgebackenem Kuchen und selbstgeschmierten Stullen für das leibliche Wohl und so vergeht selbst der samstägliche Sechsstunden-Konzertmarathon wie im Fluge. Während die Publikumsseite (noch) überwiegend lokal ausgerichtet ist, finden sich auf Seite der Musizierenden hochkarätige Namen. Ein Highlight war 2024 der Auftritt des Ensemble Recherche mit der Sopranistin Sarah Maria Sun, die ausgehend von Schönbergs Pierrot Lunaire unserem Erdtrabanten nachspürten. Angeregt von Schönbergs mondestrunkenem Melodram, dem es auf einzigartige Weise gelingt Wahnsinn in den alten Duft aus Märchenzeit zu träufeln und zwischen schrill-markanten und melancholischen Tönen zu changieren, werden bei diesem Pierrot Populaire neu-alte Stücke interpoliert, die Bekanntes wie die Mondscheinsonate oder den Song Moon River in neuem Gewand mal wie zwischen nächtlichen Wolken durchscheinen, mal ganz unmittelbar aufleuchten lassen – eine magische Reise zwischen den Welten (Tipp am Rande: aktuell kann man sich auf ARTE mit To the Moon auf ähnliche Pfade begeben).

Extravagante vokale Exkursionen sind auch bei Kurt Schwitters Ursonate zu erwarten, die Anke Lucks für den Rezitator Thomas Krüger in eine fast einstündige Fassung mit Blechunterstützung transformiert hat. Während Krüger virtuos durch Schwitters musikalisch strukturierten Nonsensetext galoppiert, wird dieser von fünf Blechbläsern aufgemischt – mit turbulent jazzigen Intermezzi, barocken Ausschweifungen, geräuschhaften Eskapaden und einem famosen Saxophonsolo von Silke Eberhard. In nicht minder schräge Gefilde entführt der Bassbariton Harald Hieronymus Hein mit einem Programm das von Carola Bauckholts Die Alte über Wolfgang Rihms Wölfli-Liederbuch bis zu Bernhard Langs I am a knot reicht und sogar einen veritablen Balztanz integriert. Hein liefert eine Performance mit vollem Körpereinsatz inklusive Kopfstand und Spagat. Besonders in den Wölfi-Liedern kostet er die Dynamik- und Registersprünge voll aus und unterstreicht sie mit einer spinnenhaft-exaltierten Mimik und Gestik, wobei er von der Pianistin Milica Zakic mit punktgenauem, trocken-hartem Anschlag begleitet wird.

Bei diesen Aufführungen macht der theatrale, performative Aspekt einen wesentlichen Teil der Faszination aus, aber auch herkömmliche Formate und lokale Kräfte kommen zum Zuge. Immerhin existiert in unmittelbarer Nachbarschaft, in Detmold, eine der fünf Musikhochschulen NRWs, die zudem über ein hauseigenes Neue-Musik-Ensemble verfügt. Das Ensemble Earquake hatte neue Werke von Kompositionsstudierenden im Gepäck, die sich alle durch eine feinsinnige, nuancierte Klangsprache auszeichnen. Michaela Rea Catranis lässt in Aphelion das Klavier als fast melancholisch anmutende Stimme aus einer vertrauten Welt auf eine Zuspielung aus Geräuschen und Texten treffen. Jungsu Kwon führt in Sanzo für Viola, Gitarre und Harfe drei sehr unterschiedliche Saiteninstrumente zusammen, deren mal mehr, mal weniger orthodox erzeugte Töne sich zu einem behutsam austarierten, fragilen Klanggespinst verbinden. Vicente Olaves Germinación Continua für Oboe solo changiert zwischen lebhaften, vorwärtseilenden und innehaltenden brüchigen Momenten.

Mit Marton Illes und Fabien Lévy waren zwei bereits etablierte Komponisten in Bielefeld zu Gast, deren neue Werken vom Duo À touche-touche (Anne-Marie Hölscher, Akkordeon, und Florian Hölscher, Klavier) aus der Taufe gehoben wurden. Hörajzok von Illes entwickelt aus einem zarten, tonlosen Pochen karge, geräuschhafte Klangspuren, die sich manchmal kurz entladen oder nervös zuspitzen und eine körperlich-intensive Atmosphäre erzeugen. Lévys dreisätzige Chronique déchantées begibt sich zunächst auf ornithologische Spuren und ist sowohl in der Satzfolge als auch auf der Mikroebene geprägt durch einen Wechsel zwischen quirlig-energetischen und innehaltenden Passagen. In beiden Werken faszinierte mich in seiner Wandlungsfähigkeit besonders das Akkordeon, das im Abschlusskonzert mit Anja Clift (Flöte), Nejc Grm (Akkordeon) und Anne-May Krüger (Mezzosopran) erneut einen großen Auftritt hatte. Grms Interpretation eines Akkordeon-Solos seines slowenischen Landmanns Uroš Rojko mit dem sprechenden Titel Balg-Kann hätte ich am liebsten gleich noch einmal gehört.

Insgesamt wurde in 12 Konzerten ein randvolles, abwechslungsreiches Programm geboten, so dass sich die Reise nach Ostwestfalen vollauf gelohnt hat. Wer neugierig geworden ist, dem bietet sich im Februar noch dreimal die Gelegenheit, in der Zionskirche zeitgenössische Musik zu hören, oder er kann sich den 17. bis 19.1.2025 notieren. Dann findet nämlich das nächste Frakzionen-Festival statt.

 

[Termine im Februar]

 

Köln

 

In der Philharmonie stehen Esa-Pekka Salonen am 4.2., 5.2. und 6.2., Matthias Pintscher am 8.2., Arvo Pärt am 15.2. und Musik von Richard Ojijo zu Videoarbeiten von Marcel Odenbach am 23.2. auf dem Programm. Die Kunststation Sankt Peter veranstaltet am 17. und 24.2. Lunchkonzerte.

Im WDR-Konzert 'Musik der Zeit' am 3.2. wird ein neues Werk von Simon Steen-Andersen aus der Taufe gehoben, in der Hochschule für Musik und Tanz spielt das Ensemble hand werk am 3.2. bolivianische Musik und am 23.2. ist dort das innovative Multimedia-Projekt Techno-Kontakt zu erleben. Am 18.2. präsentiert das Ensemble electronic ID mit Tunnelblick eine Uraufführung der Komponistin Zaneta Rydzewska, im Stadtgarten steht am 20.2. die Pianistin Sylvie Courvoisier auf der Bühne, in der Alten Feuerwache erwartet uns vom 23. bis 25.2. die Künstlerinitiative Dafne mit einer theatralen Recherche zum Exil der Künste und die Musikfabrik lädt am 26.2. zum Montagskonzert in ihr Studio.

Einblicke in die freie Szene bekommt man bei ON Cologne und Noies, der Zeitung für neue und experimentelle Musik in NRW. ON veranstaltet am 28.2. in der Reihe ChezOn ein Werkstattgespräch mit Heinrich Lenz.

Fast täglich finden Konzerte im Loft statt und jeden 2. und 4. Dienstag im Monat sendet FUNKT ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln und impakt sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Die Bochumer Melanchthonkirche präsentiert am 10.2. eine Hommage à Arnold Schönberg und Irene Kurka und Martin Wistinghausen sind am 23.2. in der Kunstwerkstatt am Hellweg zu Gast.

 

Das Dortmunder Konzerthaus veranstaltet vom 15. bis 18.2. die 'Zeitinsel Arvo Pärt', im mex erwarten uns am 9.2. Anla Curtis, Hanna Schörken und Anja Lautermann und das domicil kündigt am 15.2. The Dorf an.

 

Im Duisburger Steinbruch stehen am 7.2. Jan Klare, Constantin Herzog und Simon Camatta auf der Bühne und im Lokal Harmonie erklingt am 25.2. Basstherapie mit Virginia Genta und Kai Niggemann.

 

Im Essener Rabbit Hole Theater erwartet uns InterInter, eine Verbindung von Musik, Tanz und anderen Künsten – am 1.2. mit Maria Trautmann und am 15.2. mit Hanna Schörken. In der Folkwang Universität stehen frische Klänge am 3.2. und Uraufführungen für klassische Gitarre am 16.2. auf dem Programm, am 29.2. erklingt in der Philharmonie Siklòn für Orchester von Avner Dorman als deutsche Erstaufführung und vom 15. bis 17.2. findet in der Zeche Carl das JOE-Festival statt.

 

In der Reihe Noperas! hat am 10.2. im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier das immersive Musiktheater Freedom Collective Premiere (Folgeaufführungen am 11. und 17.2.)

 

Düsseldorf

 

Jan Klare und die Crashing Airplanes kommen am 3.2. ins Subsol, in der Tonhalle wird am 7.2. die Reihe 'Na hör'n Sie mal' mit dem Notabu-Ensemble fortgesetzt, die Filmwerkstatt präsentiert am 14.2. Visual Music Studies mit Abschlussarbeiten von Studierenden des Instituts für Musik und Medien (IMM) der Robert Schumann Hochschule und im Weltkunstzimmer findet am 24. und 25.2. das DIY Synth & Sound Art Festival mit Performances & Workshops statt.

 

Sonstwo

 

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik widmet sich am 2.2. in der Reihe 'Hören und Sprechen über neue Musik' dem amerikanischen Komponisten Aaron Cassidy.

 

Der nächste Jour fixe der Bielefelder Cooperativa Neue Musik findet am 24.2. statt und in der Zionskirche erwarten uns am 4.2., 18.2.und 24.2. Konzerte mit Neuer Musik zum Neujahr u.a. mit Irene Kurka und Martin Wistinghausen.

 

Die In Situ Art Society veranstaltet im Bonner Dialograum Kreuzung an Sankt Helena zwei Konzerte der Reihe 'The Dissonant Series': am 1.2. mit dem Trio Preuß / Henritzi / Wachtelaer und am 8.2. mit dem Otomo Yoshihide New Jazz Quintet.

 

In der Hochschule für Musik in Detmold kommt am 1.2. Tan Duns Elegy Snow in June für Percussion und Cello zur Aufführung.

 

Das Theater am Marienplatz in Krefeld widmet sich die ganze Saison über dem Merz-Bau von Kurt Schwitters. Es entsteht ein KlangMerzBau, der monatlich erweitert wird.

In Münster hat am 17.2. die Oper Imperium der Illusionen von Helena Cánovas Parés Premiere und in der Black Box erwarten uns am 4.2. das Wesp-Huhn-Duo und am 14.2. Jérôme Noetinger & dieb13.

In Trier findet vom 2. bis 4.2. das Opening-Festival statt.

Der Wuppertaler Verein Unerhört präsentiert am 9.2. Kompositionen von Uli Johannes Kieckbusch, am 10.2. ist im Skulpurenpark Waldfrieden eine Klangperformance mit Sonae und Richard Ojijo zu erleben und der ort zelebriert am 16.2. Music in the Dark.

Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

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