Raststätte Aachen: The Next Generation

1995 wird der Förderverein Kunst und Internet e.V. gegründet. Fortan wird er sowohl im virtuellen Raum (www.heimat.de) aktiv sein als auch in einem sehr realen Ladenlokal in der Lothringerstraße, genannt Raststätte. Waltraud Nießen, die für einen Großteil der Programmauswahl und alles Organisatorische in der Raststätte zuständig ist, legte diese Verantwortung im Oktober 2017 in die Hände eines Teams. Zusammen mit ungezählten Sympathisanten sorgte sie in den vorangegangenen elf Jahren dafür, dass die Raststätte für tausende von Besuchern und zahllose Künstler zu einer zweiten Heimat wurde. Ein Grund, einmal zurück, aber auch nach vorne zu blicken.

Die Raststätte kennt in Aachen vermutlich jeder. Sei es vom Besuch einer Veranstaltung oder nur vom Vorbeifahren und Staunen. Denn das Ladenlokal in der Lothringerstraße 23 zieht schon durch die großformatigen Plakate im Schaufenster den Blick an, manchmal aber auch durch eine lange Schlange vor dem Eingang. Dann ist satznachvorn in der „Raste“, der vor allem bei Studenten beliebte Sprachakrobatentreff und westlichste Poetry Slam Deutschlands, von dem die wenigsten der dann anwesenden Gäste wissen dürften, dass dieses Format in Aachen genau hier etabliert wurde. Gewinner des ersten Aachener Poetry Slams im Juli 1996: Hartmut Heil, dessen Werke laut Pressebericht der Aachener Nachrichten „lustig und flott“ waren und darüber hinaus von dem „jungen Mann mit der witzigen Ausstrahlung“ mit „jeder Menge Esprit“ vorgetragen worden seien.

Dass gerade der Poetry Slam sich als Dauerbrenner und Publikumsmagnet erweisen würde und zum Sprungbrett hoffnungsvoller Karrieren werden würde (zum Beispiel für Necip Tokoglu oder Heinz im Sinn & the Geteiltdurchs formerly known as Vakante Genies), ahnte 1996 vermutlich noch niemand. Manche Veranstaltungsreihe schaffte kaum den Hattrick, wie etwa Stückchenweise (2000), das mit Stückchenweise IV: Nackt saufen (Lasse Samström, Florian H. H. Graf von Hinten, Klavier: Willi Asbach) seinen Zenit bereits überschritten hatte. Etliche liefen hingegen für viele Monate oder halten sich, von der breiten Masse weitgehend unbeachtet, bereits seit Jahren. Sollten sie irgendwann eingestellt werden, vergießen einige wenige Die-Hard-Fans leise eine Träne. Dass hier aber jedes Format, unabhängig vom zählbaren Erfolg, eine Chance bekommt, liegt am Selbstverständnis der Raststätte (mehr dazu unten). Dass man sich das leisten kann, liegt indes am unermüdlichen und unentgeltlichen Einsatz vieler Helfer, einige davon aktuelle oder ehemalige Hausbewohner der Lothringer 23, oder Besucher, die zu Unterstützern wurden. Ihr gemeinsames Interesse ist, dass dieses einzigartige Konstrukt auch im zweiundzwanzigsten Jahr seines Bestehens ein offenes Experimentierfeld bleibt, das vieles möglich macht und sich dabei niemandem anbiedern muss, weil es nach anderen als monetären Gesetzen funktioniert.

Kultur, aber bitte von unten

Wie sonst wäre es denkbar, dass sich hier allmonatlich Musiker zum freien Improvisieren treffen (BETWEEN THE TRAX, immer hochkarätig besetzt und sträflich unterbesucht), während vielleicht wenige Tage später ein Flohmarkt im gleichen Raum stattfindet oder jemand seine allererste Fotoausstellung präsentieren kann. Oder dass hier die schrägsten der schrägen Filme laufen (aktuell die Reihe Drop-Out Cinema von Hard Sensations), ein paar Tage später der Eine Welt Forum Aachen e.V. zu Gast ist, um eine Dokumentation zu zeigen, und am Wochenende darauf die Freunde des Northern Soul bei Tighten up ausgelassen das Tanzbein bis in die Morgenstunden schwingen? Es ist der (im Zweifelsfall nach unten) erweiterte Kunst- und Kulturbegriff und letztlich die Auflösung zwischen Hoch- und Profankultur, der die Raststätte so attraktiv macht. Mit geringem Anspruch hat das nichts zu tun. Gemeint ist der kulturelle Sprengstoff, den die Durchlässigkeit für momentan vielleicht (noch oder wieder) Unpopuläres darstellt. Die Raststätte wäre nicht die Raststätte, wenn sie nicht auch dem Gehör verschaffen würde, worüber man anderenorts vielleicht (noch oder wieder) die Nase rümpft.

Fußball, Poebelei, für jeden was dabei? Everybodys darling, NICHT!

Man kann die Frage so oder so beantworten. Manche schwärmen noch heute von illustren Reihen wie Kaffee bei Herrn Siemon oder dem Stimmfilm, von der Weltmeisterschaftsberichterstattung 1998 oder den unvergesslichen Linux-Installationspartys. Auch audiophile Herrenrunden wie die Neue Kritische Diskothek, LOUD FM und Modul8, die damals von echt wenigen verstanden wurden, haben noch heute einen festen Platz im Herzen einiger Endvierziger. Und wer heute Mitte zwanzig ist, wird vielleicht in ein paar Jahren ähnlich wehmütig auf die Veranstaltungen des Kultur-Magazins POEBEL zurückblicken oder sich daran erinnern, dass dieser Señor Schnu, der mit seiner Streetart in Berlin ein ganz großes Rad dreht, ja auch so ein Typ ist, den man schon aus der Raststätte kannte. Also ja, die Bandbreite ist groß und insofern könnte für jeden etwas dabei sein. Und nein, nicht jeder muss Poetry Slams mögen oder sich gerne in einen Film reinquatschen lassen (Live-Audiokommentar, sehr zu empfehlen, schon weil als Veranstaltungsformat wohl weltweit einmalig), aber ich denke, das Prinzip wird deutlich. Es heißt Nische. Und die gilt es zu verteidigen.

Und warum? Achtung, Geschichte!

Social Media und Blogs waren noch nicht erfunden, Crowdfunding, Internetcafés und Coworking Spaces waren unbekannt. Willkommen in den frühen Neunzigern des zwanzigsten Jahrhunderts, als noch längst nicht jeder eine E-Mail-Adresse besaß, Netscape Navigator das Synonym für Webbrowser war und Mobiltelefone weder über ein Display verfügten noch besonders handlich waren. Das alles und speziell das, was wir heute unter Vernetzung verstehen, nahm damals seinen Anfang. Etwas später als in den USA, wo sich die erste virtuelle Gemeinschaft schon 1985 gründete (THE WELL: The Whole Earth ’Lectronic Link), schickte man sich seinerzeit auch in Aachen an, den Solidargedanken innerhalb der Gemeinschaft der Kulturschaffenden und die Politisierung der Öffentlichkeit neu zu befeuern, und zwar mit Hilfe der neuen Medien, die damals noch nicht neu genannt wurden, weil sie noch zu neu waren. Wir schreiben das Jahr 1995. Der Förderverein Kunst und Internet e.V. wird gegründet. Fortan wird er sowohl im virtuellen Raum (www.heimat.de) aktiv sein, als auch in einem sehr realen Ladenlokal in der Lothringerstraße, genannt Raststätte.

Achtung, mehr Geschichte!

Nicht, dass der Vernetzungsgedanke oder die Idee, die zeitgenössische Kunst wieder mit gesellschaftlichen Belangen zu verheiraten, neu gewesen wären. Ganz im Gegenteil. Gegen Ende der 1980er Jahre trug das Aufbegehren des Punk gegen die soziale Kälte und die Kommerzialisierung der Gesellschaft späte Früchte in Form einer sich global formierenden Alternative-/Independentbewegung, die sich nicht nur in der Musikszene manifestierte, sondern auch zu mannigfaltigen Experimenten im Bereich der Medien und der bildenden Kunst führte. Die technischen Möglichkeiten – zunächst noch Kopierer und wenig später Webarchive und Usergroups – förderten die Bildung einer Gegenöffentlichkeit. Die Künstler suchten und schufen unabhängige Plattformen und probten die politische Praxis. Das alles muss man nicht unbedingt wissen, wenn man nicht dabei war. Aber es ist jenes gesellschaftliche Klima, aus dem heraus der Verein und die Raststätte entstanden.
Das Digitale muss ins Analoge

Trotz einer begeisterten Umarmung der digitalen Medien, die damals noch der „letzte heiße Scheiß“ waren, war der reale Ort des Geschehens von Anfang an eminent wichtig. Nach der Aufbruchstimmung der frühen Jahre, in denen noch unabsehbar war, was aus der Raststätte einmal werden würde, folgte in den Nuller-Jahren eine Phase der Konsolidierung, die den Verein bis zum heutigen Tag getragen hat. Während sich die „Digitalsparte“ heimat.de zunächst in Form des Kulturservers NRW weiterentwickelte und später zu einem vom Verein unabhängigen Geschäftsmodell wurde, erwies sich das ausgeräumte Ladenlokal mit seinem rauen Baustellencharme in den folgenden Jahren als Konstante in Sachen lokaler Kulturförderung. Auch das Facelifting, das man ihm im Zuge von Brandschutzmaßnahmen im vergangenen Jahr verordnete, hat seine spezielle Atmosphäre kaum verändert. Dass es mittlerweile mehr als 20 Jahre lang bespielt, beschallt, beklebt, versifft, wieder geputzt, geduldet und geliebt wird, hat ihm jenen Nimbus verliehen, den man nicht künstlich erzeugen kann.

Dank der kontinuierlichen Förderung durch den städtischen Kulturbetrieb sowie der Beharrlichkeit und der (heute wie damals) unbezahlten Arbeit vieler Menschen, die ihre Zeit und ihr Herzblut investieren, ist der Kulturort inzwischen eine Institution von Bestand, ohne dass man befürchten muss, dass seine Bestimmung verloren geht. Kurz: Die Chemie stimmt und die Raststätte bietet auch heute einen Platz für Vielfalt jenseits des Mainstreams und widersetzt sich qua Statuten und Selbstverständnis erfolgreich jeder Vereinnahmung. So gesehen hat sie sich gar nicht so weit von ihren Wurzeln entfernt. Und war sie jemals wertvoller als heute, in den Zeiten des Self- und Stadtmarketing, in denen die freie Kultur allzu oft bereitwillig geopfert wird?
Blick auf morgen

Im fliegenden Wechsel übernimmt zurzeit das neue Team die Programmgestaltung und die Organisation in vierter „Generation“. Auch faktisch steht damit ein echter Generationswechsel ins Haus. Welche konkreten Veränderungen dies mit sich bringen wird, darüber hält man sich noch weitgehend bedeckt. Zunächst würden die laufenden Reihen weitergeführt und Organisatorisches werde eingeübt, heißt es. Fest steht, dass es in der Raststätte auch weiterhin keine Personalityshow geben wird. Das neue Kernteam wird zusammen mit den anderen Aktiven, die sich beispielsweise um die Technik oder die Durchführung einzelner Veranstaltungen kümmern, auch zukünftig in aller Bescheidenheit, aber tatkräftig die Infrastruktur für Darbietungen aller Art zur Verfügung stellen. Auch am Prinzip der Partizipation wird selbstredend nicht gerüttelt. Künstler und Kulturinteressierte, die Engagement und Ideen mitbringen, sind jederzeit willkommen. Raum und Publikum vorhanden.

Raststätte, Lothringerstraße 23, 52062 Aachen, www.raststaette.org

Artikel zuerst erschienen im Aachener Stadtmagzin MOVIE, Ausgabe August 2017