Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Januar 2019

Gewesen: Elliott Sharps Benjamin-Oper Port BouMarx in London am Bonner Theater – Frau Musica Nova in Köln

Angekündigt: Frakzionen in Bielefeld – Arditti Quartet in Detmold – Ensemble Modern mit Musik von Mark Andre in Köln u.v.a.m.

 

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[Elliott Sharps Benjamin-Oper Port Bou]

 

Nachdem Port Bou, Elliott Sharps Oper über Walter Benjamin, 2014 in New York zur Uraufführung kam und 2015 seine erste und bislang einzige europäische Inszenierung im Berliner Konzerthaus erlebte, präsentierte jetzt die In-situ-art-society, ein 2014 von Pavel Borodin und Georges Timpanidis in Bonn gegründeter Verein zur Förderung zeitgenössischer Musik, vier Aufführungen in Bonn, Duisburg und Münster. In Port Bou, einem kleinen Ort am Mittelmeer an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, beging Benjamin 1940 auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord und so wie sich in einem derartigen Moment das gesamte Leben verdichtet, so zeigt auch Sharp einen formal wie inhaltlich äußerst reduzierten und konzentrierten Blick auf das Geschehen. Drei Musiker (Nicholas Isherwood, Bassbariton, Jenny Lin, Klavier, und William Schimmel, Akkordeon, ergänzt durch elektronisches Zuspiel) genügen ihm, ein Video von Janene Higgins fungiert als Bühne und Kulisse, auf Handlung wird verzichtet. Während die Ouvertüre noch von visuellen Versatzstücken des Außen (Krieg, Flüchtlingsströme) begleitet wird, führt uns bereits der zweite Abschnitt in jenes Hotelzimmer, in dem Benjamin seine letzten Stunden verbrachte – angedeutet durch ein Fenster, das keinen Blick mehr nach draußen gewährt, während wechselnde Zeichen an der Wand (christliches Kreuz, Davidstern, Hakenkreuz, Schriftzeichen usw.) uns umso intensiver in sein Inneres schauen lassen. Vor seinen und unseren inneren Augen und Ohren breiten sich jene Momente und Sphären aus, die ihn berührt und begleitet haben, ohne ihn wirklich binden geschweige denn ihm Heimat geben zu können. Seine Beziehung zum Judentum artikuliert sich in einem suchenden, stotternden, stammelnden Ringen mit der Silbe Sh, das sich schließlich nicht in einem erlösenden Bekenntnis (Schma Israel) sondern in einem brutal-banalen Scheiße entlädt. Ein auch rhythmisch prägnantes, insistierendes En arche en ho Logos („Am Anfang war das Wort“) führt ihn zu seinem Ureigensten, der Sprache. Aber der Verweis auf Gott („und das Wort war bei Gott“) ist eliminiert, auch die Sprache ist wurzel- und heimatlos geworden. In den letzten drei Abschnitten (Schöpfung, Reproduktion, Übersetzung) zerrinnt sie ihm im Mund und zwischen den Fingern, ein Mäandern zwischen den Worten und Sprachen, ein sich Auffächern und Aufspalten („multitudes of selves and words and death“), das im Chaos und Nichts mündet: Die letzten Worte sind „nulla no tohu va bohu gornisht“. Ein wahrhaftiger Kontakt zum menschlichen Gegenüber muss auf dieser Basis scheitern, was besonders eindrücklich der Abschnitt Ajsa verdeutlicht, der um seine Beziehung zu der lettischen Schauspielerin Ajsa Lacis kreist, die mit ihm nach Moskau reiste, um ihm den Kommunismus näher zu bringen. Einen Moment lang scheint mit ihr die Wirklichkeit wieder Einzug zu halten, doch alles ist in Rot getaucht, es ist eine im Dogma erstarrte Welt, die Benjamin sprachlos, mit einem stammelnd-hilflosen Ah zurücklässt. Der Abschnitt veranschaulicht auch Sharps diffizilen Einsatz der Technik. Das elektronische Zuspiel besteht aus von den Musikern und ihm selbst vorab aufgezeichneten Tonspuren, die verfremdet, gedehnt und gefaltet werden, eine Technik, bei der die Eigenschaften zweier Audiodateien übereinander gelegt und zu etwas Neuem verschmolzen werden. In Ajsa erscheint diese als unwirkliche, körperlose Sopranstimme, wie ein Irrlicht, verführerisch, anziehend und gleichzeitig bedrängend, vereinnahmend, gefährlich. Sharp gelingt ohne oberflächliches Psychologisieren oder konstruiertes Spekulieren ein eindrücklicher Blick auf Benjamins innere Verfasstheit während seiner letzten Stunden – vor allem mit den Mitteln der Musik, die mal scharf, schneidend, mit wiederkehrenden Rhythmen und Motiven, mal suchend und stammelnd das Geschehen ausleuchtet. Und obwohl sich Stimme, Klavier, Akkordeon und Zuspiel gleichberechtigt begegnen, ist es doch Isherwood, dessen Ausdruckskraft und Präsenz den Fixpunkt bilden. Wenn er die Bühne verlässt und die Musik verstummt, zeichnet sich im Fenster roter Feuerschein ab. Götterdämmerung und Weltenbrand und doch auch Morgenrot, denn die Welt dreht sich allem Grauen zum Trotz weiter.

 

[Marx in London am Bonner Theater]

 

Von ganz anderem Holz geschnitzt ist eine Uraufführung, die am 9.12. als Auftragswerk des Theater Bonn aus der Taufe gehoben wurde und sich ebenfalls mit einer verstorbenen Geistesgröße befasst: Marx in London. Das auf Anregung und unter Mitwirkung von Jürgen R. Weber entwickelte Werk war von Anfang an als Opernfarce geplant und widmet sich vorzugsweise den grotesk-abwegigen Seiten in Marx' Leben. Weber ist durch seine Regieerfahrung mit Seifenopern wie GZSZ und Sturm der Liebe bestens für eine derartige Aufgabe gerüstet und holte sich ebenfalls einschlägig vorbelastete Mitstreiter ins Boot. Die Musik besorgte Jonathan Dove, der für seinen schmissig-eingängigen Kompositionsstil bekannt ist und mit Marx in London bereits seine 29. Oper vorlegt, für das Libretto zeichnet Charles Hart verantwortlich, der durch seine Zusammenarbeit mit Andrew Lloyd Webber bekannt geworden ist. Spätestens jetzt wird sich womöglich der eine oder andere fragen, was diese Besprechung in einer Gazette über Neue Musik in NRW verloren hat – ein völlig berechtigter Einwand. Aber ab und zu kann es nicht schaden, über den Tellerrand hinauszuschauen, und wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass weder experimentelle Klänge noch eine Auseinandersetzung mit Marx' philosophischem Lebenswerk zu erwarten sind, kann man dem Abend durchaus amüsante Seiten abgewinnen. Tatsächlich wird keine Peinlichkeit aus Marx' Leben ausgelassen. Gleich zum Auftakt sehen wir ihn, wie er seine Haushälterin anbaggert, mit der er bereits einen unehelichen, inzwischen erwachsenen Sohn hat, der – obwohl von Engels anderweitig entsorgt – unverhofft auf der Bildfläche erscheint und von Marx' Tochter Tussy für einen Spion gehalten wird, bevor sie selbst mit ihm anbändelt. Jenny, die Ehefrau, ertränkt – gemeinsam mit besagter Haushaltshilfe – ihren Kummer im Alkohol, während Marx angesichts der ewigen Geldnot versucht, ihr Familiensilber zu versetzten, aber sich auch dabei zu dumm anstellt. Mehr als einmal erweist sich Engels als Retter in der Not, der den Gepeinigten wahlweise Wein- oder Geldlieferungen zukommen lässt. Marx' politische Mission dient in arg zurechtgestutzter Form nur als dekoratives Beiwerk und Vorlage für opulente Chorpartien – so wenn er einnickt und von der Revolution träumt oder sich in einer Arbeiterkneipe als spendabel erweist. Das alles wird von Dove musikalisch gut gewürzt, besonders Tussy – die eigentlich Schauspielerin werden wollte – darf sich in überschwänglichen Koloraturen ergehen, Engels kommt 'in strahlendstem C-Dur mit Trompetenbegleitung' einher und auch einige 'fast unbekümmerte Songs' dürfen nicht fehlen. Vor einem wandelbaren Bühnenbild, eine Mischung aus Häuserzeile und Maschinenpark, sorgt Weber als Regisseur für viel Bewegung, ständig sind die Protagonisten auf fahrbaren Untersätzen unterwegs und nach einem völlig überdrehten Showdown mündet das Ganze in einem Friede-Freude-Eierkuchen-Szenario, zu dem Engels natürlich wieder den Wein spendiert. In der Vorweihnachtszeit milde und versöhnlich gestimmt kann ich das Spektakel als mässig-unterhaltsame Einlage durchgehen lassen, wenn ich aber daran denke, was die Oper Bonn in früheren Zeiten in der Reihe 'bonn chance' an Uraufführungen auf die Beine stellte, kommt doch Wehmut auf.

 

[Frau Musica Nova]

 

Vor 21 Jahren rief Gisela Gronemeyer die Initiative Frau Musica Nova ins Leben mit dem Ziel, das Schaffen von Frauen in der neuen Musik besonders zu fördern. Ein Blick in die Konzertprogramme der einschlägigen Festivals zeigt, dass dies auch heute noch kein überflüssiges Unterfangen ist, und so ist es zu begrüßen, dass inzwischen mit Brigitta Muntendorf die Nachfolgegeneration den Staffelstab übernommen hat und auch weiterhin gemeinsam mit dem Deutschlandfunk regelmäßig zum Jahresende ein Konzert von und mit Frauen ausgerichtet wird. Mit Muntendorf, die seit 2013 für das Programm verantwortlich zeichnet, hat Frau Musica Nova eine neue Handschrift bekommen. Performance, Multimedia, diverse Grenzüberschreitungen haben Eingang gefunden und so ist es stimmig, dass die Veranstaltung diesmal nicht im ehrwürdigen Kammermusiksaal des Deutschlandfunks, sondern im Ehrenfelder Artheater über die Bühne ging, wo neben dem Theater- und Konzertbetrieb auch ein reges Clubleben blüht. Die in diesem Jahr eingeladene Turntable-Spezialistin Shiva Feshareki konnte sich daher wie zu Hause fühlen. Die 2017 mit dem British Composer Award ausgezeichnete Künstlerin hat auch schon für und mit großem Orchester gearbeitet, in Köln präsentierte sie sich in ihrem ureigenen Medium und zauberte mit ihren Turntables spannungsvolle Klanglandschaften, bei denen sich Rhythmen und Sounds auf- und abbauen, überlagern, aufschaukeln oder gegenseitig in die Quere kommen. Begleitet wurde sie dabei von der Violinistin des Ensemble Garage Akiko Ahrendt, die neben ihrem Instrument auch ihre elektronisch verfremdete Stimme einsetzte. Mit feinnervigem Wortgestöber brachte sie sich ins Spiel, ließ ihre Geige knarzen oder streute nervöse Schraffuren über elektronische Störfelder. Manchmal bissen die beiden sich fest, traten auf der Stelle, dann wieder brachen sie auf in elegische Gefilde, in denen sich Zeit und Raum verlieren. Man konnte kaum glauben, dass sich Feshareki und Ahrendt am Vortag bei der Premiere in Hellerau erstmals begegnet waren.

 

[Termine im Januar]

 

Köln

 

Die Philharmonie kündigt für den 23.1. das Podium mit elektronischer Musik und für den 25.1. ein Konzert des Ensemble Modern mit Musik von Mark Andre an. In der Kunststation Sankt Peter stehen neben den Januar-Improvisationen am 6.1. und Lunch-Konzerten am 19. und 26.1. ON-Konzerte mit Sabine Akiko Ahrendt am 16.1. und dem Trio Abstrakt am 30.1. auf dem Programm. ON – Neue Musik Köln hat außerdem am 22.1. Ruskin Watts eingeladen. Das WDR Sinfonieorchester spielt am 12.1. im Funkhaus Wallrafplatz Werke von Claude Vivier, Robert HP Platz und Oscar Bianchi, am 13.1. erklingt zeitgenössische Musik im Dozentenkonzert der Carl-Stamitz-Musikschule, im musikwissenschaftlichen Institut der Uni Köln kommt am 18.1. Raum-Musik von Natascha Nikeprelevic zu Gehör, beim Raderbergkonzert des Deutschlandfunks spielt das Brentano String Quartet Musik von Matt Aucoin und Elliot Carter, in der Kunsthochschule für Medien ist am 24.1. in der Reihe soundings das Duo Warble zu Gast, im japanischen Kulturinstitut stellt das ensemble 20/21 am 25.1. neue Musik japanischer Komponisten vor und ebenfalls am 25.1. präsentiert Departure, eine Kooperation von Ensemble Musikfabrik und Studio für Elektronische Musik der Hochschule für Musik und Tanz Köln, eine Reihe von Uraufführungen.

Volles Programm wie üblich im Loft und weitere Termine bei kgnm und Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Das Dortmunder Konzerthaus kündigt Heinz Holligers Reliquien als deutsche Erstaufführung am 25.1. an und am 18.1. ist die Sopranistin Sarah Maria Sun mit Musik von Cage, Saunders, Aperghis, Nono und Berio zu erleben.

 

In der Duisburger Mercatorhalle spielt das Armida Quartett am 13.1. das 1. Streichquartett von Sofia Gubaidulina. Am 27.1. sind Mitglieder der Duisburger Philharmoniker im Earport zu Gast und bereits am 26.1. hält Prof. Friedrich Schmuck dort einen einleitenden Vortrag. Außerdem findet im Earport am 12. und 13.1. ein Klangworkshop für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen statt.

 

In der Essener Folkwang Universität stehen die Tape Session am 10.1., Kompositionen von Folkwang Lehrenden am 15.1., ein Konzert der integrativen Komposition am 21.1., frische Klänge am 24. und 26.1. sowie ein Abend mit dem Impr%rchester am 25.1. auf dem Programm. Außerdem wird am 9.,16. und 23.1. die Ringvorlesung 'Musik und Performance im 21. Jahrhundert' fortgesetzt. Am 25.1. wird in der Philharmonie als Nachklang zum NOW!-Festival die Abschlusspräsentation des Schülerprojekts vorgestellt und die Jazz Offensive Essen veranstaltet vom 17. bis 19.1. das JOE Festival.

 

Düsseldorf

 

Am 30.1. spielt in der Tonhalle das Notabu-Ensemble in der Reihe 'Na hör'n Sie mal!' Werke von Anno Schreier, Anton Webern, Manfred Trojahn und Elena Mendoza.

 

Sonstwo

 

Vom 11. bis 13.1. findet in der Bielefelder Zionskirche das Festival für zeitgenössische Musik in der Kirche Frakzionen statt – der Eintritt ist wie immer frei. Zudem hat am 13.1. am Theater Bielefeld die Oper Dead Man Walking von Jake Heggie Premiere und am 14.1. ist in der Rudolf-Oetker-Halle das Ensemble Horizonte zu Gast.

 

Am 5.1. wird die nächste Klangwerkstatt Detmold veranstaltet und das Ensemble Horizonte spielt am 13.1. im Hangar 21. In der Hochschule für Musik stehen das Ensemble Earquake am 11.1., das Arditti Quartet am 29.1., die Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 30.1. und ein Konzert der Schlagzeugklasse mit dem Komponisten David Dramm am 31.1. auf dem Programm.

 

Das neue Jahr startet am 1.1. mit einem Konzert im Atelier von Antoine Beuger in Haan (Anmeldungen und weitere Infos unter 02129.4954).

 

Bayer Kultur veranstaltet am 20.1. in Leverkusen ein Konzert anlässlich des 75. Geburtstags von York Höller.

 

Die Black Box in Münster präsentiert improvisierte Musik am 6.1. sowie eine Jazz-Film-Reihe.

 

Das Studio für Neue Musik der Uni Siegen kündigt für den 17.1. ein Konzert mit Orgelmusik in der Nikolaikirche an.

 

Im Wuppertaler ort erwarten uns die Filmreihe cine:ort am 10.1., das Trio Kali am 20.1. und Partita Radicale am 31.1.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW