Neue Musik in NRW - Ausgabe Januar 2023

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05. Dezember 2022

Gewesen: NOperas! mit Obsessions in Wuppertal 'Musik der Zeit' beim WDR

Angekündigt: Frakzionen in Bielefeld – Klangkollektiv Recursion als improviser in residence in Moers Tage für Zusammenkünfte in Essen u.v.a.m.

 

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[NOperas! mit Obsessions in Wuppertal]

 

Bereits seit 2006 fördert der Fonds Experimentelles Musiktheater (feXm) von NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW Projekte, die zwar in den städtischen Schauspiel- und Opernhäusern verankert sind, aber die üblichen von Hierarchien und klaren Arbeitsteilungen geprägten Produktionsbedingungen außer Kraft setzen. Der Schwerpunkt liegt stattdessen auf Teamwork, Prozessorientierung und der Einbeziehung von Ensembles der freien Szene. Bis 2019 entstanden auf diese Weise 15 Produktionen, von denen mir viele noch in lebhafter Erinnerung sind. Die Übertragbarkeit auf andere Häuser ist bei dieser Herangehensweise allerdings schwierig. Um nicht nur Eintagsfliegen zu produzieren, entstand daher die Idee, unter dem neuen Label NOperas! städte- beziehungsweise länderübergreifend zu arbeiten. Von Anfang an dabei waren die Oper Wuppertal und das Theater Bremen. Nach dem Ausscheiden der Oper Halle sind inzwischen das Staatstheater Darmstadt und das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen hinzugekommen.

Unter diesen Vorzeichen war im Januar 2020 in Wuppertal schon die sogenannte Logistik-Oper Chaosmos zu erleben (s. Gazette Januar 2020). Verzögert durch Corona und andere Wirren hatte jetzt am 3.12. Obsessions Premiere, das in einer ersten Version Anfang 2022 bereits in Bremen aus der Taufe gehoben wurde. Eingeladen war die finnische Kompanie Oblivia, die bereits seit 20 Jahren „kollektiv, nicht-hierarchisch, multikünstlerisch“ unterwegs ist, und für NOperas! mit der chinesischen Komponistin Yiran Zhao zusammengearbeitet hat. In Wuppertal trafen sie auf die Ensemblemitglieder Rebecca Murphy (Sopran), Julia Reznik (Mezzosopran) und Yisae Choi (Bass-Bariton), Musiker und Musikerinnen des Sinfonieorchesters und natürlich auf den Produktionsapparat der Oper, um gemeinsam das weite Feld der menschlichen Obsessionen zu erkunden. Oblivia nähert sich dem Phänomen, mit dem wir gierige Besessenheit aber auch zwanghafte Fixierung verbinden, auf sehr reduzierte und stilisierte Weise. Die Bühne ist bis auf das am linken Rand platzierte Kammerorchester vollkommen leer und wird nach und nach von sieben Darstellern in überdimensionierten, wallenden Gewändern bevölkert, die sich in überzeichneten, skulpturalen Posen präsentieren – seltsame Machtdemonstrationen, herausfordernd und entlarvend zugleich. Dazu erklingt eine fragile Musik, die sich manchmal in volltönenden Gesang oder geradezu wohlige melodische Gefilde versteigt, um sich bald darauf in diffuse Lautäußerungen und Geräuschzuspielungen zu verflüchtigen.

In einer zweiten Sequenz finden sich die Darstellenden in einer Art Partysetting wieder. Doch das scheinbar zwanglose Plaudern mündet bald in zwanghaftes Agieren. Ein harmlos-banales „Bumm chichi bumm chi“ wird vom verspielten Rhythmus, bei dem man mit muss, zum unausweichlichen Sog, verwandelt das leichtfüßige Tänzeln in einen leerlaufenden Gleichschritt, wird manisch ausgewalzt, um schließlich wie ein überdrehter Mechanismus zu kollabieren. Doch auch die zwischendurch anklingenden Lieder erweisen sich in ihrer Schlichtheit als doppelbödig. Sie handeln von Sein oder Nichtsein und von dem seltsamen Wunsch, in einer Pyramide begraben zu werden.

Das Faszinierende dieses Abends besteht darin, dass wir in hochartifizielle, ästhetische Bild- und Klangwelten eintauchen, in denen gleichzeitig ganz alltägliche und vertraute Szenarien lauern. Daraus entstehen widerstreitende Gefühle, die uns nur allzu bekannt sind: Wir glauben, die Mächtigen in ihrem prätentiösen Gehabe zu durchschauen, fühlen uns abgestoßen und können uns ihnen doch nicht entziehen. Wir fühlen uns gelangweilt von den immer gleichen oberflächlichen gesellschaftlichen Ritualen und wollen doch unter allen Umständen dazugehören, aus Angst vor Ausgrenzung und Isolation. So werden wir Teil eines Räderwerks, das in seiner scheinbaren Alternativlosigkeit obsessiven Charakter hat.

Oder gibt es doch einen Ausweg? Zum Schluss leitet eine den ganzen Bühnenhintergrund einnehmende farbkräftige Projektion, die an einen kollabierenden, sich in amöbenhafte Formen auflösenden Stern erinnert, in einen post-obessiven Zustand über. Filigrane instrumentale Gesten locken die Mitwirkenden erneut auf die Bühne, vorsichtig und verletzlich, jetzt ohne ihre voluminösen Kleiderpanzer, erkunden sie neue Möglichkeiten des Miteinanders und vereinigen sich zu einem Gesang, an dem auch die Orchestermusiker teilhaben.

Im Januar ist eine Folgeaufführung geplant, den 14.1.2023 sollte man sich vormerken.

 

['Musik der Zeit' beim WDR]

 

In der Reihe 'Musik der Zeit' hob das WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Ilan Volkov am 9.12. zwei neue Werke aus der Taufe und konfrontierte sie mit Musik aus den 70er Jahren. Bemerkenswert ist, dass sich beide Uraufführungen an Beethoven abarbeiten. York Höller verwendet in seiner Beethoven Paraphrase Motive, die er in bewährter Weise aus Beethovens Namen destilliert (z. B. B-E-E-H-E) und einer 'permanenten Durchführung' unterzieht. Im zweiten Teil kommen Versatzstücke aus Beethovens Coriolan-Ouvertüre hinzu. Das Ergebnis ist solides konservatives Handwerk und will wohl auch nicht mehr sein. Malte Giesen interessiert sich nach eigener Aussage weniger für die kleinteilige Arbeit an historischen Motiven sondern für die klangliche Oberfläche. Für sein neues Werk Massenprozession hat er sich das Eingangsmotiv aus dem zweiten Satz von Beethovens 7. Sinfonie vorgenommen: Den einprägsamen Grundrhythmus, mit dem „schicksalshafte, auch apokalyptische, in jedem Fall rituelle und unveränderliche 'höhere Mächte'“ assoziiert werden, hat jeder sofort im Ohr, weshalb er auch – vom Tatort bis zu den X-Men – wiederholt für Filmmusiken verwendet wurde. Während des Kompositionsprozesses wurde Giesen dann selbst von höheren Mächten eingeholt: Die Coronapandemie forderte ihren Tribut, weshalb zunächst eine Version mit reduzierter Orchestergröße entstand. Erst jetzt kam in Köln die ursprünglich Fassung zur Aufführung mit großer Besetzung einschließlich verdoppelten Pauken und Neukonzeption der elektronischen Zuspielung. Das Stück entfaltet so die nötige Wucht, um dem zugrundeliegenden Thema, das Phänomen der bewegten Massen, gerecht zu werden. Das bekannte Motiv geistert mehr oder minder erkennbar durch den Raum, mal als dunkles Raunen und Rumoren, eingebettet in den Nebel der elektronischen Zuspielung, dem eine Aufnahme des 2. Satzes durch das WDR Sinfonieorchester zugrundeliegt, dann in absoluter Klarheit. Die Musik schwillt an, von Pauken befeuert, erodiert, zerfasert, tritt erneut über die Ufer, die Zuspielung verflüchtigt sich in bis zu 1024-facher Vervielfältigung zu weißem Rauschen, das sich wie ein Schatten über den Raum legt. In 20 Minuten passiert eine Menge, doch zum Schluss bleibt man etwas durchgewalkt mit der Frage zurück, ob das jetzt mehr war als viel Lärm um nichts. Aber vielleicht ist gerade das der Wirkmechanismus einer Massenprozession, ein ausgeklügeltes Trara mit Wiedererkennungseffekt.

In den 70er Jahren stand man der Tradition noch weitaus kritischer gegenüber und versuchte stattdessen neue Klangwelten zu erkunden. Dass man auch auf diese Weise ins Kino kommen kann, hat György Ligeti bewiesen, der diesmal mit seinem Doppelkonzert für Flöte und Oboe vertreten war. Auf einen ruhigen ersten Teil, in dem Tonhöhenschwankungen ein eigenwilliges Schillern und Flirren erzeugen, folgt ein quirliger zweiter Teil, der ganze Insektenschwärme in höchste Register vordringen lässt – Musik, die auch nach 50 Jahren ihren Reiz noch nicht verloren hat.

Besonders spannend wurde es dann mit Lucia Dlugoszewskis Abyss und Caress für Trompete und Orchester, denn obwohl das Stück bereits Anfang der 70er Jahre entstand, erlebte es jetzt erst seine deutsche Erstaufführung. Die Amerikanerin mit polnischen Vorfahren wurde 1925 in Detroit geboren und hat ein breitgefächertes Aktivitätsspektrum vorzuweisen. Sie studierte u.a. bei Edgar Varèse, entwickelte mit dem Bildhauer Ralph Dorazio mehr als hundert Musikinstrumente, entwarf Musik und Choreographien für die Tanzcompagnie ihres Mannes Erich Hawkins und arbeitete mit Jonas Mekas zusammen. Bereits der Titel des 30-minütigen Werkes, Abgrund und Zärtlichkeit, zeigt dass es ihr nicht um ausgefeilte Konstruktion geht sondern um „rücksichtslos-intensive Energie“ und „rücksichtslos-intensive Erotik“. Unmittelbare Erfahrungen mit Geburt und Tod während des Kompositionsprozesses taten ein übriges, um dem Werk seine überbordende, existentielle Kraft zu verleihen. So wild-fragil, unberechenbar und drastisch wie das Leben, soll auch die Musik sein. Gleich der Auftakt ist von hohem, schrillen Zirpen geprägt, das bis an die Schmerzgrenze reicht, so dass einige Menschen im Publikum sich die Ohren zuhielten. Es folgen sirenenhaftes Rumoren, turbulente Attacken der Blechbläser und immer wieder das virtuose, sich schier überschlagende Schmettern des Solotrompeters (Peter Evans!), dessen Signale vom Orchester aufgegriffen oder von Geräuschwolken umfangen werden. Bei der Uraufführung unter Pierre Boulez bestand dieser – man kann es sich lebhaft vorstellen – auf Kürzungen und tatsächlich läuft das Stück manchmal aus dem Ruder, verrennt sich, kennt Redundanzen. Aber seinem Anspruch wird es damit durchaus gerecht, denn so chaotisch ist nunmal das Leben.

 

[Termine im Januar]

 

Köln

 

In der Philharmonie stehen das Ensemble Modern mit Wolfgang Rihm am 6.1., eine deutsche Erstaufführung von Guillaume Connesson am 15.1. und ein Streichquartett von Misato Mochizuki am 29.1. auf dem Programm. Die Musikfabrik lädt am 9.1. zum Montagskonzert und ist am 29.1. u.a. mit einer Uraufführung von Milica Djordjevic beim WDR zu Gast.

Am 6. und 7.1. findet im Barnes Crossing eine Wiederaufführung der Roboteroper Rossums Universal Robots statt (s. Gazette März 2022), Aki Takase präsentiert am 10.1. im japanischen Kulturinstitut eine Neuinterpretation der Carmen in einem Bühnenbild von Chiharu Shiota und in der Reihe 'soundings' der Kunsthochschule für Medien ist am 12.1. Edwin van der Heide zu Gast. In der Kunststation Sankt Peter wird am 14.12. das Posaunen-Ensemble Bonecrusher erwartet, im nächsten 'Musik der Zeit'-Konzert im WDR kommt am 21.1. ein neues Werk von Steven Daverson zur Uraufführung, die nächste Soirée Sonique im Lutherturm findet am 25.1. statt, am 27.1. veranstaltet das musikwissenschaftliche Institut der Uni Köln ein Jubiläumskonzert für Xenakis und in der Alten Feuerwache steht am 29.1. das Ensemble Dehio auf der Bühne.

 

Fast tägliche Konzerte sind im Loft zu erleben und ON Cologne veranstaltet am 11.1. ein Werkstattgespräch mit Frank Dommert vom Kölner Plattenladen a-musik. Funkt präsentiert jeden 2. und 4. Dienstag im Monat ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln und weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.

 

Ruhrgebiet

 

Das E-Mex-Ensemble setzt seine Reihe 'Fleisch' am 8.1. im Maschinenhaus in Essen und am 20.1. im Anneliese Brost Musikforum in Bochum fort.

Am 19.1. ist The Dorf mit seiner monatlichen Session im Dortmunder domicil zu erleben und im Konzerthaus kommt am 28.1. Fires von Raminta Šerkšnyte zur Aufführung.

In der Duisburger Mercatorhalle stehen George Crumbs Sonate für Violoncello solo am 15.1. sowie Musik von Erkki-Sven Tüür am 18. und 19.1. auf dem Programm und im Duisburger Ableger der Folkwang Universität erklingen am 18.1. frische Klänge.

Im Haupthaus in Essen-Werden erwarten uns Kompositionen von Folkwang Lehrenden am 10.1., die Tape Session am 12.1., noch mehr frische Klänge am 23.1. und 28.1. sowie Konzerte der Integrativen Komposition unter dem Motto 'Just in Time' am 24. und 26.1.

Die Gesellschaft für neue Musik Ruhr, gnmr, veranstaltet am 13. und 14.1. das kleine Festival 'Tage für Zusammenkünfte' u.a. mit den Curious Chamber Players und einer Orgelnacht, JOE, die JazzOffensiveEssen präsentiert am 14.1. Simon Camatta im Gitter Raum und die RüBühne erwartet am 27.1. das Ensemble 201 mit Blooming Fluorescence.

 

Düsseldorf

 

In der Tonhalle setzt das Notabu-Ensemble am 25.1. seine Reihe 'Na hör'n Sie mal' fort.

 

Sonstwo

 

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik kündigt aktuellen Jazz mit Olivier Chavet am 14.1. und ein Klavierkonzert mit Jan Gerdes am 21.1. an.

 

Die Bielefelder Cooperativa Neue Musik veranstaltet am 9.1. den nächsten Jour fixe. Vom 13. bis 15.1. findet bei freiem Eintritt das Festival Frakzionen in der Zionskirche statt. Mit dabei sind das Ensemble Ascolta, das Ensemble Bonecrusher, die Schlagzeugerin Vanessa Porter u.v.a.m. Bei einem weiteren Neue Musik-Konzert in der Zionskirche am 22.1. ist Irene Kurka zu Gast.

 

In der Hochschule für Musik in Detmold erwarten uns ein Konzert mit dem Ensemble Earquake am 10.1. und die Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 27.1.

 

Als Moerser improviser in residence für 2023 wurde das von Christopher Retz, Steven Koch und Jan Krause gegründete Kunst- und Klangkollektiv Recursion ausgewählt. Das Übergabekonzert findet am 22.1. statt.

 

In der Blackbox in Münster werden das Trio Ephemeral Fragments am 15.1. und das Trio Mehta-Klare-Froleyks am 29.1. erwartet. Jan Klare ist im Januar gleich mehrfach in Münster zu erleben – am 14.1. in der Trafostation, am 26.1. in der Baracke und am 27.1. bei einer Aufführung von Peter Weiss' Die Ermittlung im Landgericht.

 

Das Studio für Neue Musik der Uni Siegen kündigt ein Konzert mit Friedrich Gauwerky und Florian Uhlig am 17.1. an.

 

Der Wuppertaler ort beginnt das neue Jahr mit einem kladeraDADAtsch zu Schwitters 75. Todestag am 8.1., dem cine:ort am 12.1. und Neuer Musik für Viola und Klavier am 16.1.

 

Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW

 

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