Neue Musik in NRW - Ausgabe Juli 2023
Gewesen: Oluzayo-Festival in Köln – Triennale in Monheim – NOperas! in Gelsenkirchen – Schönes Wochenende in Düsseldorf
Angekündigt: Folkwang Woche Neue Musik – Klangraum in Düsseldorf – Soundseeing im Münsterland u.v.a.m.
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[Oluzayo-Festival in Köln]
Neue Musik, besonders die mit großem N, war und ist noch immer eine sehr europäische Veranstaltung. Die Namen der Komponierenden auf den einschlägigen Festivals muten zwar auf den ersten Blick international an, um aber in der Szene Fuß zu fassen, war bzw. ist es ratsam, sich an bestimmte Codes zu halten. Alles was irgendwie folkloristisch anmutet, wird skeptisch bis geringschätzig beäugt, und ich muss gestehen, dass ich mich selbst von solchen Tendenzen nicht freisprechen kann. Dabei ist es weniger die Vorstellung, dass die Neue Musik die bessere oder kulturell wertvollere ist, sondern einfach meine Erfahrung, dass schräge Klänge und Unberechenbarkeiten bei mir ein Gänsehaut- und Wohlgefühl erzeugen, das gängige Rhythmen und Melodien so nicht hinbekommen. Aber vieles ist im Fluss und die Codes bröckeln. Im letzten Jahr hat das Essener Now!-Festival unter dem Motto Horizonte den Blick über den europäischen Tellerrand hinaus geworfen und ist dabei überwiegend in Asien fündig geworden. Ausgerechnet der Abstecher nach Afrika mit Lukas Ligeti und seiner Gruppe Burkina Electric, die auf das Ensemble Bruch trafen, hatte mich wenig überzeugt. Aber die Neugier stirbt zuletzt und so wollte ich mir das Kölner Oluzayo-Festival, das u.a. von eben jenem Lukas Liget kuratiert wurde, nicht entgehen lassen. Oluzayo ist ein Begriff aus der Sprache der Zulu, der 'was vor uns liegt' bedeutet und hier für ein Festival für aktuelle, experimentelle und zeitgenössische Musik aus Afrika steht. Da scheint alles möglich und gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der – kaum wurden die alten Dogmen einigermaßen aus dem Weg geräumt – neue Warnschilder aufploppen. Man möchte natürlich nicht in den seichten Gefilden der marktgängigen Weltmusik landen oder einem kolonialistischen Blick erliegen und zudem lauert die Gefahr der kulturellen Aneignung. In dieser Hinsicht hat sich Ligeti in einem lesenswerten Interview in der Zeitung Noies klar positioniert: „Solange eine Verbindung mit Afrika da ist, ist es unser Thema – ohne Identitätspolitik.“ Diese Haltung zeigte sich exemplarisch im Eröffnungskonzert mit dem Ensemble Modern, das vier Auftragskompositionen aus der Taufe hob, die sich irgendwie mit afrikanischer Musik auseinandersetzen sollten. Von den vier Auserwählten wurden mit Gabriel Abedi (*1999 in Ghana) und Onche Rajesh Ugbabe (*Nigeria) nur zwei in Afrika geboren, wobei ersterer in Italien aufwuchs und letzterer indische Vorfahren hat und in den USA ausgebildet wurde. Yang Song stammt aus der inneren Mongolei, studierte in China, am IRCAM in Paris, bei Johannes Schöllhorn in Freiburg und später in Köln und Michele Sanna ist Italiener, dessen Verbindungen von Europa über die USA bis nach Japan reichen. Puristische Biographien sind heute kaum noch zu haben und entsprechend vielschichtig waren auch die Kompositionen und ihre Bezugnahmen auf Afrika. Onche Rajesh Ugbabe hat sich in seinem Werk The Ancestors Speak die Frage gestellt, wie seine Vorfahren auf europäischen Instrumenten spielen würden und ließ sich dabei von Liedern seiner kürzlich verstorbenen Großmutter inspirieren. Diese wandern als freundliche Melodien durchs Ensemble, gemahnen an asiatisch anmutende blumige Landschaftsszenarien und bieten vor allem friedliche Idylle. In ähnliche Gefilde lockt Gabriel Abedi, der in Seperewa Kasa Klang, Textur und Spielweise des 12- bis 14-saitigen, lautenartigen Instruments Seperewa auf das Ensemble überträgt; ein verspielter tänzerischer Reigen mit tirilierender Flöte und allem was dazu gehört. Bei aller versuchten Aufgeschlossenheit waren mir diese beiden Stücke doch zu lieblich und konventionell. Als ganz anderes Kaliber entpuppte sich das Werk Heterometric Patterns von Yang Song. Geprägt von der Obertontradition ihrer mongolischen Heimat ließ sie sich vom Obertongesang umngqokolo der Xhosafrauen aus Südafrika anregen. Gleichzeitig arbeitet sie mit komplexen rhythmischen Strukturen, indem sie das Ensemble in drei eigenständige, parallel geführte Gruppen aufteilt. Daraus entsteht eine vielschichtige, facettenreiche Musik, in der die einzelnen Ebenen manchmal aus dem Ruder laufen, sich in chaotische Turbulenzen verstricken und doch von unsichtbarer Hand zusammengehalten werden. Michele Sanna ließ sich zu seiner Factory of illusions von den Pygmäen inspirieren, jedoch weniger von ihrer Musik als von ihren Geschichten, die er in ausgesprochen farbige und sprechende Klänge übersetzt: schnatternde und plappernde Blechbläser, mal von galoppierenden Rhythmen angetrieben, mal scheinbar auf der Stelle tretend oder diffus schweifend, jazzige Turbulenzen neben hingehauchten und -getupften Geräuschexkursionen – eine abwechslungsreiche und spannende Klangreise, bei der keine Langeweile aufkommt. Unterm Strich bin ich so auf meinen Vorurteilen sitzen geblieben, wonach die durch die Neue-Musik-Mühle gegangenen akustischen Welten mir am meisten zu bieten haben.
Die Musik der Pygmäen hat bereits György Ligeti fasziniert, heute ist es sein Sohn Lukas Ligeti der mit verschiedenen Projekten in Afrika aktiv ist und auch an der Ausrichtung der diesjährigen ISCM Weltmusiktage in Südafrika in leitender Funktion beteiligt ist. Das Kölner Oluzayo-Festival kann als deren Vorspann betrachtet werden und bot an vier Tagen ein erfreulich abwechslungsreiches Spektrum afrikanischer Musik.
Satch Hoyt begibt sich mit seinem Projekt Afro-Sonic Mapping auf die Spuren der afrikanischen Diaspora und erzeugt aus Bildern, Skulpturen, historischen Aufnahmen, Instrumenten und Klängen aller Art, Gefundenem und Konstruiertem eine eigene Welt; ein forschender, ethnologischer Ansatz, der sich aber nicht darin erschöpft, sondern dem Entdeckten neues Leben einhaucht. Nachdem Hoyt, der derzeit in Berlin lebt, einen Einblick in seine Arbeit gegeben hatte, begab er sich gemeinsam mit Dirk Leyers auf eine traumwandlerische Reise, bei der alte und neue, elektronische und live-erzeugte Klänge sich zu einem pulsierenden Sog verbanden, wie prickelnde und schäumende Meereswellen, die akustisches Treibgut anspülen, das sich in den Ohren verfängt und dessen man doch nicht habhaft werden kann.
Der US-Amerikaner Mark Stone interpretierte auf dem ghanaischen Xylophon Gyil die Musik seines verstorbenen Lehrers Bernard Woma. Woma adaptierte die traditionelle Musik für den Konzertsaal und stand unter anderem mit den Berliner Symphonikern und den New Yorker Philharmonikern auf der Bühne. Während das Instrument im traditionellen Kontext in Trioformation zum Einsatz kommt, präsentierte Stone eine virtuose One-Man-Show mit vollem Körpereinsatz. Es war faszinierend zu erleben, wie das bodenständige Instrument mit seinem rustikalen, scheppernden Klang mit zunehmender Beschleunigung plötzlich eine ungeahnte Leichtigkeit entwickelt, Flügel bekommt und abhebt.
Ein Highlight des Festivals war Mark Ernestus' Ndagga Rhythm Force, wobei der Name Programm ist. Die senegalesischen Perkussionisten erzeugen ein wahres Trommelgewitter, es ist, als würden hochpräzise Gewehrsalven abgefeuert, so komplex, dass sie das Fassungsvermögen übersteigen und trotzdem unmittelbar mitreißen. Dazu gesellt sich die Sängerin Mbene Diatta Seck mit ihrer markanten kraftvollen Stimme ohne überflüssige Schnörkel. Das Publikum ließ sich nicht lange bitten und ging begeistert mit. Hier scheint sich die gängige Ansicht zu bestätigen, dass Musik aus Afrika dann am besten ist, wenn sie sich auf ihre Kernkompetenz Rhythmus konzentriert. Wenn dieses Vorurteil so fulminant bedient wird, lasse ich es mir gerne gefallen.
[Triennale in Monheim]
Oft rangiert Klangkunst nur im Nebenprogramm, aber die Triennale in Monheim bereitet ihr in diesem Jahr die große Bühne. Unter dem Motto The Sound – Sonic Art in Public Spaces kann man noch bis zum 2.7. das kleine idyllisch am Rhein gelegene Städtchen umsonst und draußen mit den Ohren erkunden. Statt von Konzert zu Konzert zu eilen, pünktlich zu sein und dann still zu sitzen, muss man sich hier selbst auf den Weg machen, sein eigenes Tempo finden und alle Sinne öffnen – verlaufen und durchfragen inklusive. Kommt man von Norden, so kann man gleich zum Auftakt mit James Webb den Rhein befragen. Ganz unspektakulär und leicht zu übersehen (Hinweisschilder beachten) sind an drei Stellen Lautsprecher auf den Fluss gerichtet, aus denen Fragen dringen, die ihn direkt und respektvoll adressieren (der Rhein wird gesiezt!). „Was tun Sie mit den Dingen, die Ihnen geopfert wurden?“, „Welche Lieder beruhigen Sie?“ und „Was möchten Sie von uns?“ heißt es da. Antworten gibt es keine, in den Pausen hört man schnatternde Enten und das Plätschern der Wellen, man gerät rasch in den Sog der ruhigen Stimme, beginnt selbst nach Antworten zu suchen, verbindet sich mit dem Fluss, taucht ein in Raum und Zeit und kommt schließlich bei sich selbst an: „Was erschöpft Sie?“, „Vor wem oder was haben Sie Angst?“, „Was bräuchten Sie, um Ihren Lauf zu ändern?“ Das scheint direkt an mich gerichtet.
Die Fragen wurden teilweise gemeinsam mit Monheimer Bürgerinnen und Bürgern entwickelt und diese konnten auch bei anderen Projekten mitwirken. Anushka Chkheidze hat das leerstehende Gelände einer ehemaligen Kindertagesstätte auserkoren, um in die Kindheit einzutauchen. Sie fragte Monheimer und Monheimerinnen nach ihren liebsten Schlafliedern, ließ sie diese gleich einsingen und schuf daraus eine elektronisch aufbereitete Komposition, die auf wundersame Weise aus Bäumen und Büschen schallt. Der verlassene, leicht verwahrloste Ort, an dem einst Kinder tobten, macht es leicht, sich dem unprätentiösen Singsang hinzugeben und die verschiedenen Sprachen und Nationalitäten tun ein übriges, um ein Gefühl von Heimweh zu erzeugen; Heimweh nach einer verlorenen Welt, nach Geborgenheit, nach den Menschen, die nicht mehr bei uns sind.
Auch große Namen sind in Monheim präsent, allen voran Robert Wilson, der den Park der Marienburg in eine Märchenwelt verwandelt. Er spielt mit Größenverhältnissen und lokalen Verweisen, indem er in der Sichtachse des historischen Gemäuers ein Häuschen platziert, in welchem uns eine überdimensionale Gans erwartet. Die Gans hat in Monheim eine lange Tradition und ist in Wappen und Skulpturen allgegenwärtig, doch während sie normalerweise von der Gänseliesel zum Schweigen angehalten wird, ist hier alles Singen, Sprechen und Schnattern. Nicht nur aus dem Häuschen schallt es uns entgegen, sondern auch aus drei Brunnen: Während unsere Blicke sich in goldenes und kristallenes Funkeln versenken oder mit Engeln und Wolken in eine imaginäre Kuppel aufsteigen, lauschen wir Geschichten, die die Monheimerin Ulla Hahn eigens für Wilsons Installation geschrieben und eingesprochen hat.
Wieder in Rheinnähe hat John Grzinich seine Windharfen installiert, die je nach Wind und Wetter flirrend-flatternde oder filigran-metallische Klänge von sich geben, und ganz in der Nähe wird es vollends exotisch. Aus einem kleinen Wäldchen dringen seltsame Geräusche, die Chris Watson direkt From the Mara to Monheim verpflanzt hat. Masai Mara ist ein Naturreservat in Kenia, dessen Soundscape unter Einhaltung des originalen Tagesablaufs übertragen wird. Wer mag, kann sich anhand eines Zeitplans auf die Lauer legen und Löwen, Klapperlerchen, Aasgeier und Elefanten aufspüren, aber das Schöne ist, dass man nie so genau weiß, was hier Monheim und was Mara ist und ob das Vogelgezwitscher aus unsichtbaren Lautsprechern oder live aus den Bäumen kommt. Der Dschungel ist immer und überall, in unserem Kopf und im kleinsten Gesträuch – wenn wir ihn nur hören wollen.
Während man sich all das und noch vieles mehr erwandern kann, kommt Angela de Weijers Collective Signal ungefragt zu allen. Immer samstags um 16 Uhr vereinigen sich 12 Sirenen im Stadtgebiet, doch diesmal nicht, um vor Katastrophen zu warnen, sondern um uns mit einer fröhlichen Melodie zu erfreuen, die hallig-blechern den Stadtraum erobert. Es könnte alles so schön sein!
[Nopera! mit Fundstadt in Gelsenkirchen]
In Gelsenkirchen konnte man sich auf eine Wanderung ganz anderer Art begeben. Initiiert von NOperas!, einer Initiative, die in der Nachfolge des Fonds experimentelles Musiktheater (feXm) städte- und genreübergreifende Projekte fördert, kooperierten diesmal das Theater Bremen und das Musiktheater im Revier. Aber das besondere des neuen Projekts Fundstadt waren die jungen Mitwirkenden, die sich unter der Federführung des Musiktheater-Kollektivs HIATUS, bestehend aus den beiden Schweizer Musikern Duri Collenberg und Lukas Rickli und der deutschen Theatermacherin Uta Plate, zusammengefunden hatten: Je drei Kinder aus Bremen und Gelsenkirchen waren eingeladen worden, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und Geschichten zu kreieren, die um magische Wesen kreisen. Vom Socken fressenden Superhelden mit vier Händen und zwei Krebsscheren über ein unsichtbar in einem Karton hausendes Glitzerwesen bis zum katzenhaften Riesengetüm mit traurigem Gesicht ist alles dabei und so spektakulär müssen die fantastischen Gefährten auch sein, denn die Welt der Kinder ist alles andere als heil. Sie erzählen von Mobbing und Ausgrenzung, stillgelegten Schwimmbädern und lungenkranken Großvätern und auch die Wahrheit kann es nicht richten, denn – so philosophiert Janne - „die Wahrheit ist nicht immer die schönste, denn meistens ist es so, dass die Wahrheit auch irgendwie ekelhaft ist.“ Zu sehen und zu hören ist all dies nicht im vertrauten Theaterambiente, sondern das Publikum wird mit Tablets ausgestattet in die Stadtlandschaft gelockt und auf eine Schnitzeljagd geschickt. An speziellen Stationen können kleine Videofilme abgerufen werden, in denen uns die Kinder durch ihre Alltags- und Traumwelten führen und in denen sie schließlich auf ihre in den Theaterwerkstätten zum Leben erweckten Fantasiegestalten treffen. Dazwischen wandern wir durch die Gelsenkirchener Straßen und werden in unseren Kapuzenoutfits (zwecks Sonnenschutz) selbst zu Aliens. Dabei stoßen wir immer wieder auf Gestalten und Objekte, die mehr oder weniger eindeutig den Filmen entsprungen sind: Kinder, die über Verteilerkästen balancieren, Planeten, die in Bäumen hängen, Goldfolien, die über leere Plätze tanzen, und so manches mehr, von dem man nicht weiß, ob es inszeniert oder einfach da ist. Fantasie und Wirklichkeit, Kindheits- und Erwachsenenwelt, filmisches und reales Ambiente, Trauriges und Fröhliches, Bremen und Gelsenkirchen, alles verbindet sich miteinander zu einem in alle Richtungen ausstrahlenden Geflecht, in dem sich stets neue Zusammenhänge entdecken lassen. Etwas ins Hintertreffen gerät die Musik, die – man kann es kaum glauben – ebenfalls von und mit den Kindern komponiert wurde. Mal schallt eine Trompete aus einem Fenster, mal erscheint ein Gesangstrio vor der Kulisse der terrassenartig aufsteigenden Wohnanlage Weißer Riese, mal erklingt eine Violine aus einem Ladenlokal. Doch der optischen Eindrücke und gedanklichen Assoziationen sind so viele, dass ich das Gefühl habe, der Musik gar nicht gerecht zu werden.
Zum Schluss versammeln sich alle im Foyer des MIR und auf Feldbetten ausgestreckt umgeben uns erneut die unterschiedlichsten Welten: an den Wänden die riesigen Schwammreliefs von Yves Klein, vor uns der weite Blick auf die Gelsenkirchener Stadtlandschaft, aus Lautsprechern wie ein Nachtraum Wort- und Klangfetzen des eben Gehörten und um uns herum wuseln wie ein riesiger Insektenschwarm die Kinder, bevor sie den wohlverdienten Applaus entgegennehmen.
[Schönes Wochenende in Düsseldorf]
Offenbar gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, wonach öffentlich geförderte Konzerthäuser sich mindestens einmal in der Saison mit zeitgenössischer Musik befassen sollten. Auch in der Düsseldorfer Tonhalle fühlt man sich in der Pflicht, tut sich aber hörbar schwer damit. Obwohl eingeräumt wird, dass „zum Glück … die Welt der aktuellen Musik in den letzten Jahren durchlässiger geworden“ ist, glaubt man sie immer noch retten zu müssen. Ohne falsche Bescheidenheit wird daher das „Festival für Neue und Neueste Musik“, das unter dem Titel „Schönes Wochenende“ firmiert (im Rahmen des Schumannfestes), unter das Leitmotiv „Die Rettung“ gestellt und so jede unterm Sternenzelt des Mendelssohn-Saales uraufgeführte tonale Wendung zum Befreiungsakt stilisiert. Damit nicht genug sollte aber in diesem Jahr nicht nur die Musik sondern gleich der ganze Planet gerettet werden, weshalb vorzugsweise Komponistinnen und Musiker mit grünem Sendungsbewusstsein eingeladen wurden. Das führt dann zum Beispiel zu einem Auftragswerk, das zwar sonst nicht weiter bemerkenswert ist, aber immerhin neben einigen Psalmen eine Rede von Greta Thunberg vertont. Ansonsten wurden Ensembles präsentiert, die an anderen Orten schon funktioniert haben und hoffentlich niemandem weh tun. So zum Beispiel das achtstimmige Vokalensemble The Present, das bereits bei den Schwetzinger Festspielen überzeugte und 2021 Ensemble artist in residence des ZAMUS (Zentrum für alte Musik Köln) war. Das Programm Ex Utero befasst sich mit dem Thema Mutterschaft und verbindet Musik der Mailänder Komponistin Chiara Margarita Cozzolani aus dem 17. Jahrhundert mit neueren Werken zu einer Marienvesper. Hildegard Westerkamp bereitet in Moments of Laughter Aufnahmen ihres quengelnden und johlenden Kindes elektronisch auf und lässt sie mit den teils ebenfalls verfremdeten Stimmen interagieren. Catherine Lamb stellt in pulse/shade pulsierende und gehaltene Klänge in nicht-temperierter Stimmung einander gegenüber. Sie nähern sich einander an, scheinen zu verschmelzen und driften wieder auseinander; ein gleichzeitig klar strukturiertes und emotional-meditatives Werk. Das alles lässt sich ohne Zweifel gut anhören, nur neu oder gar neuest ist es nicht und gerettet wird natürlich auch niemand. Das gilt auch für das Konzert mit dem Brooklyn Rider Quartet, einem Streichquartett aus New York, das sich unter dem Motto The Four Elements mit dem fragilen Gleichgewicht unseres Ökosystems beschäftigt. Den Elementen zugeordnet erklingen ältere Werke von Dutilleux (Luft), Schostakowitsch (Feuer), Golijov (Wasser) sowie eine Bearbeitung der American Folk Songs von Ruth Crawford Seeger für Streichquartett (Erde). Hinzu kommen zwei neuere Stücke: Hollow Flame von Akshaya Avril Tucker bezieht sich unmittelbar auf die verheerenden Flächenbrände, die Kalifornien in den letzten Jahren heimgesucht haben, und durchläuft verschiedene Aggregatzustände vom flirrenden, filigranen Gespinst über tiefere, dichtere Gefilde bis zum Entgleiten in luftige Höhen. Andreia Pinto Correia ließ sich von den Staubstürmen, die von der Sahara bis zur iberischen Halbinsel ziehen, zu ihrem Stück Aere senza stelle anregen. Nach einem behutsamen Auftakt brodelt und stöbert es gewaltig, bevor die Musik in eine diffuse Statik mündet - erinnernd an die Orientierungslosigkeit in einem Sandsturm, der die Sicht auf den sternenklaren Himmel trübt (Luft ohne Sterne).
Das alles geschieht auf hohem Niveau und trotzdem bleibt der Eindruck des Etikettenschwindels. In diesem Fall sogar in doppelter Hinsicht, denn die Jungs aus Brooklyn, deren Konzert ohne rot zu werden als „ein Stück musikalischer Klimaaktivismus“ verkauft wird, fliegen vor lauter Sendungsbewusstsein um den halben Globus, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen. Laut Tourplan ging es von Düsseldorf in die Türkei, dann wieder in die USA, gleich darauf für einen Tag nach London und sofort retour – hin und her quer über den Atlantik! Flugscham gehört offenbar nicht zum Repertoire.
Für die Zukunft möchte man der Tonhalle wünschen, einfach das Programm zu machen, das man für gut befindet – ohne Verbalakrobatik und Nachhaltigkeitsanbiederungen. Es muss gar nicht immer das Neueste sein.
[Termine im Juli]
Köln
Am 2.7. gestaltet Michael Denhoff mit seinem Cello ein Gartenkonzert, das Ensemble Handwerk ist am 4.7. in der Alten Feuerwache zu Gast, am gleichen Ort lässt das Stuttgarter Trio Pony Says am 5.7. Popkultur auf Neue Musik treffen, das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Köln feiert am 7.7. 75 Jahre elektroakustische Musik und am 12.7. kommt das Kopenhagener Ensemle K!ART ins Uraniatheater (am 14.7. auch im Kunsthaus Essen).
Die Klangkolchose NRW ist im Juli nicht nur im Kölner Lutherturm sondern auch in Essen und Hilden zu erleben.
Einblicke in die freie Szene bekommt man bei ON Cologne und Noies, der Zeitung für neue und experimentelle Musik in NRW. Fast tägliche Konzerte finden im Loft statt und FUNKT präsentiert jeden 2. und 4. Dienstag im Monat ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.
NICA artist development (benannt nach Pannonica de Koenigswarter) fördert Musiker und Musikerinnen aus NRW, die im Bereich Jazz und aktuelle Musik tätig sind. Am 3., 10., 17. und 24.7. stehen einige von ihnen im Stadtgarten auf der Bühne.
Ruhrgebiet
Noch bis zum 27.8. kann man im Dortmunder U die Ausstellung Nam June Paik: I Expose the Music besuchen. Zum Begleitprogramm gehört auch ein DJ-Set am 8.7. und am 23.7. sind auf dem Vorplatz des Dortmunder U die Spacelions zu erleben, ein Dortmunder Musikkollektiv, das sich der improvisierten Erforschung von Klang(zwischen)räumen verschrieben hat.
Vom 3. bis 8.7. findet in der Folkwang Universität der Künste in Essen eine Woche der Neuen Musik statt.
Düsseldorf
Vom 11. bis 16.7. und vom 25. bis 30.7. veranstaltet Antoine Beuger wieder den sommerlichen Klangraum in der Jazzschmiede. Dazwischen, vom 18. bis 24.7., präsentiert Andre O. Möller ein von ihm kuratiertes Programm.
Sonstwo
Soundseeing, das münsterlandweite Klangkunstfestival, hat den bekannten nigerianischen Künstler Emeka Ogboh in das Kunsthaus Kloster Gravenhorst nach Hörstel eingeladen (bis 20.8.). Noch bis zum 23.7. sind in der Burg Vischering Schattenklänge von Achim Vogel Muranyi und Peter Vogel zu erleben, die Klangkunstausstellung von Albrecht Fersch in Ibbenbüren wurde bis 16.7. verlängert, am 20.7. präsentiert Michael Bradke sein Giganten-Orchester und das Metallophon in Gronau und am 30.7. eröffnet eine Licht- & Klangausstellung von Achim Vogel Muranyi im Kunstverein Münsterland in Coesfeld.
Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik hat am 1.7. das Duo Yun/Graf zu Gast.
Der monatliche Jour fixe der Bielefelder Cooperativa Neue Musik befasst sich am 23.7. mit Sidney Corbett.
Die Bonner Gesellschaft für Kunst und Gestaltung widmet sich noch bis zum 6.8. mit der Ausstellung Strom : Klänge dem Studio für elektronische Musik der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Zum Begleitprogramm gehören im Juli ein Filmabend am 7.7., Hörstunden am 9. und 16.7. sowie Konzerte am 21. und 23.7.
Das Studio für Neue Musik der Universität Siegen veranstaltet am 13.7. einen Schlagzeugabend.
Im Abschlusskonzert des Klavier-Festival Ruhr kommt am 7.7. in der Historischen Stadthalle in Wuppertal Philip Glass' neues Klavierkonzert als Auftragswerk zur Uraufführung.
Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.
Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW
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